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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Nichtstun bei der Arbeit, für das ewige »japanische« Lächeln auf seinem Gesicht.
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    »Wie ist der Brigadier zu euch?«
    »Gut.«
    »Zu wem in der Brigade habt ihr ein schlechtes Verhältnis?«
    »Zu Kriwizkij und Saslawskij.«
    »Warum?«
    Ich erklärte es, so gut ich konnte.
    »Na, das ist dummes Zeug. Dann schreiben wir: ein schlechtes Verhältnis haben Kriwizkij und Saslawskij, weil es mit ihnen während der Arbeit Streit gab.«
    Ich unterschrieb ...
    Spät in der Nacht ging ich mit dem Begleitposten ins Lager, aber nicht in die Baracke, sondern in das flache Gebäude seitlich der Zone, in den Lagerisolator.
    »Hast du Sachen in der Baracke?«
    »Nein. Ich habe alles am Körper.«
    »Um so besser.«
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    Es heißt, ein Verhör ist ein Kampf zweier Willen: des Untersuchungsführers und des Beschuldigten. Wahrscheinlich ist das so. Wie kann man aber vom Willen eines Menschen sprechen, der von ständigem Hunger, Kälte und schwerer Arbeit über viele Jahre entkräftet ist – wenn die Hirnzellen vertrocknet sind und ihre Fähigkeiten verloren haben? Die Wirkung eines langen, vieljährigen Hungers auf den Willen eines Menschen und auf sein Wesen ist eine völlig andere als ein Hungerstreik im Gefängnis oder Folter durch Hunger, bis man künstlich ernähren muß. Hier ist das Gehirn des Menschen noch nicht zerstört und sein Geist noch stark. Der Geist kann den Körper noch beherrschen. Hätten Untersuchungsführer der Kolyma Georgi Dimitroff auf das Gerichtsverfahren vorbereitet, dann wüßte die Welt nichts vom Leipziger Prozeß.
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    »Ja, und jetzt?«
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    »Vor allem – nimm die Reste deines Verstandes zusammen, ahne, verstehe, bringe heraus – die Eingabe gegen dich kann nur von Saslawskij und Kriwizkij kommen. (Auf wessen Verlangen? Nach wessen Plan, nach welcher Kontrollziffer?) Schau, wie der Untersuchungsführer aufgemerkt, wie er mit dem Stuhl gequietscht hat, sobald du diese Namen genannt hast. Bleib fest – erhebe Einspruch! Einspruch gegen Kriwizkij und Saslawskij! Setz dich durch – und du bist in »Freiheit«. Bist zurück in der Baracke, in »Freiheit«. Gleich wird dieses Märchen vorbei sein, diese Freude des Alleinseins, der dunkle gemütliche Karzer, wohin Licht und Luft nur durch die Türritze dringen – und es beginnt: die Baracke, Ausrücken, Hacke, Schubkarre, grauer Stein, eisiges Wasser. Wo ist der richtige Weg? Wo die Rettung? Wo der Erfolg?«
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    »Ja, und jetzt? Wenn Sie wollen, rufe ich zehn Zeugen Ihrer Wahl aus Ihrer Brigade auf. Nennen Sie beliebige Namen. Ich schleuse sie durch mein Arbeitszimmer, und alle werden gegen Sie aussagen. Etwa nicht? Ich verbürge mich, daß es so ist. Wir sind doch beide erwachsene Leute.«
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    Die Strafzonen zeichnen sich durch die Musikalität ihrer Namen aus: Dshelgala, Solotistyj ... Die Orte für Strafzonen werden mit Bedacht ausgewählt. Das Lager Dshelgala liegt auf einem hohen Berg – die Bergwerksgruben sind unten, in der Schlucht. Das heißt, daß die Leute nach vielstündiger erschöpfender Arbeit die vereisten, in den Schnee gehauenen Stufen hinaufkriechen, sich an abgerissene eisbedeckte Weidengehölzer klammern, hochkriechen und die letzten Kräfte verausgaben werden, auf dem Rücken das Brennholz – die tägliche Menge Holz zum Heizen der Baracke. Das verstand natürlich der liebe Chef, der den Platz für die Strafzone ausgewählt hat. Er verstand auch etwas anderes: daß man von oben, den Lagerberg hinunter, jene rollen oder werfen konnte, die sich sträuben, die nicht zur Arbeit gehen wollen oder können, und so wurde es auch gemacht beim morgendlichen »Ausrücken« in Dshelgala. Wer nicht ging, den packten die hochgewachsenen Aufseher an Armen und Beinen, holten Schwung und warfen ihn hinunter. Unten wartete ein Pferd, vor einen Schlepptrog gespannt. Die Verweigerer band man mit den Füßen an den Schlepptrog und schleifte sie zur Arbeitsstelle.
    Der Mensch ist vielleicht auch darum zum Menschen geworden, weil er physisch kräftiger und widerstandsfähiger war als jedes Tier. Und das ist er auch geblieben. Menschen starben nicht daran, daß man ihre Köpfe über zwei Kilometer über die Wege von Dshelgala holpern läßt. Es wird ja nicht galoppiert mit dem Schlepptrog.
    Dank dieser topographischen Besonderheit erreichte man in Dshelgala leicht das sogenannte »Ausrücken bis auf den Letzten« – wenn die Gefangenen selbst bemüht sind, hinunter zu schlittern, zu rutschen, ehe sie die Aufseher in den Abgrund

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