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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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hast du gearbeitet?«
    »Als Agronom beim Volkskommissariat für Landwirtschaft.«
    Der Chef der Kohleschürfung, der die Etappe in Empfang nahm, blätterte in Skorossejews »Akte«.
    »Bürger Natschalnik, ich kann auch noch ...«
    »Ich setze dich als Wächter ein ...«
    In der Schürfung war Skorossejew ein eifriger Wächter. Er verließ seinen Posten keinen Moment – er fürchtete, ein Kamerad könnte jeden Fehler nutzen und ihn denunzieren, verkaufen, den Chef aufmerksam machen. Lieber nichts riskieren.
    Einmal war die ganze Nacht dichtes Schneetreiben. Skorossejews Ablösung war der Galizier Narynskij – ein kastanienblonder Kriegsgefangener aus dem Ersten Weltkrieg, der seine Haftstrafe für die Vorbereitung eines Komplotts zur Wiederherstellung Österreich-Ungarns erhalten hatte und ein wenig stolz war auf dieses ungewöhnliche, seltene Verfahren unter der Unmenge von »Trotzkisten« und »Schädlingen«. Als Narynskij von Skorossejew den Dienst übernahm, wies er lachend darauf hin, daß Skorossejew selbst im Schnee, im Schneetreiben nicht von seinem Posten gewichen war. Seine Hingabe wurde bemerkt. Skorossejew festigte seine Position.
    Im Lager war ein Pferd verendet. Das war kein sehr großer Verlust – im Hohen Norden arbeiten die Pferde schlecht. Aber das Fleisch! Das Fleisch! Die Haut mußte abgezogen werden, der Kadaver war im Schnee gefroren. Es fanden sich keine Spezialisten und Freiwillige. Skorossejew erbot sich. Der Chef war verwundert und erfreut – Haut und Fleisch! Die Haut für den Rechenschaftsbericht und das Fleisch in den Kessel. Von Skorossejew sprach die ganze Baracke, die ganze Siedlung. Fleisch, Fleisch! Der Pferdekadaver wurde ins Badehaus geschleppt, und Skorossejew taute den Kadaver auf, zog die Haut ab und weidete ihn aus. Die Haut erstarrte im Frost und wurde ins Lagerhaus getragen. Das Fleisch bekamen wir nicht zu essen, der Chef hat es sich im letzten Moment überlegt – wir hatten ja keinen Tierarzt, es gab ja keine Unterschrift im Protokoll! Der Pferdekadaver wurde in Stücke gehackt, ein Protokoll erstellt, ein Feuer gemacht und das Fleisch in Anwesenheit des Chefs und des Einsatzleiters verbrannt.
    Die Kohle, nach der unsere Schürfung suchte, wurde nicht gefunden. Nach und nach verließen je fünf, zehn Mann das Lager in die Etappe. Den Berg hinauf, über den Tajgapfad verschwanden diese Leute für immer aus meinem Leben.
    Dort, wo wir wohnten, war immerhin eine Schürfe und kein Bergwerk, und jeder verstand das. Jeder versuchte, möglichst lange hier zu bleiben. Jeder »setzte sich fest«, wie er konnte. Der eine fing an, ungewöhnlich eifrig zu arbeiten. Der andere – länger als sonst zu beten. Unruhe trat in unser Leben.
    Begleitposten trafen ein. Von jenseits der Berge trafen Begleitposten ein. Um Männer zu holen? Nein, die Begleitposten nahmen nicht mit, sie nahmen niemanden mit!
    In der Nacht wurde die Baracke durchsucht. Wir hatten keine Bücher, wir hatten keine Messer, hatten weder Tintenstifte noch Zeitungen noch Papier – was also suchen?
    Sie konfiszierten freie Kleidung, zivile Kleidung – viele hatten zivile Kleidung –, denn in dieser Schürfe arbeiteten auch Freie, und es war eine Schürfe ohne Begleitposten. Verhinderung von Fluchten? Erfüllung eines Befehls? Eine Veränderung des Regimes?
    Alles wurde ohne jedes Protokoll, ohne Notiz konfisziert. Konfisziert – und Schluß! Die Empörung war maßlos. Mir fiel wieder ein, wie vor zwei Jahren in Magadan die zivile Kleidung von Hunderten von Etappen konfisziert wurde, von Hunderttausenden Leuten. Zehntausende Pelzmäntel, von den unglücklichen Häftlingen in den Norden, den Hohen Norden mitgebracht, warme Mäntel, Pullover, teure Anzüge – teure darum, um irgendwann einmal bestechen, in einer entscheidenden Stunde das eigene Leben retten zu können. Doch der Weg der Rettung wurde im Magadaner Badehaus abgeschnitten. Berge ziviler Kleidung wurden im Hof des Magadaner Badehauses aufgeschichtet. Die Berge waren höher als der Wasserturm, höher als das Dach des Badehauses. Berge von warmer Kleidung, Berge von Tragödien, Berge von menschlichen Schicksalen, die jäh und schroff zerbrachen – so daß jeder, der das Badehaus verließ, zum Tod verurteilt war. Ach, wie hatten all diese Leute gekämpft, um ihre Habseligkeiten vor den Ganoven, vor der offenen Räuberei in den Baracken, Waggons und Etappen zu bewahren. Alles, was sie gerettet, vor den Ganoven versteckt hatten, wurde im Badehaus vom Staat

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