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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Scherbenglas verwendet – das war auch die Konstruktionsidee, die den schwierigen Transport, die Zerbrechlichkeit und vieles andere berücksichtigte –, zum Beispiel Konservengläser, in der Mitte senkrecht durchgesägt. Bei all dem geht es natürlich um die Fenster in den Wohnungen der Leitung und den Behörden. In den Häftlingsbaracken gab es keinerlei Scheiben.
    Das Licht drang matt und trübe durch solche Fenster, und auf dem Tisch des Tribunalsvorsitzenden brannte eine elektrische Lampe ohne Schirm.
    Die Verhandlung war sehr kurz. Der Vorsitzende verlas die knappe Anklage – Punkt für Punkt. Er vernahm die Zeugen – ob sie ihre Aussagen in der Voruntersuchung bestätigen. Zu meiner Überraschung waren es nicht drei, sondern vier Zeugen – ein gewisser Schajlewitsch hatte den Wunsch geäußert, sich an meinem Prozeß zu beteiligen. Diesen Zeugen hatte ich nie gesehen und nie im Leben mit ihm gesprochen – er war aus einer anderen Brigade. Das hinderte Schajlewitsch nicht, schnell das Geforderte herunterzurasseln: Hitler, Bunin ... Ich begriff, daß Fjodorow Schajlewitsch zur Sicherheit dazugenommen hatte – falls ich unerwartet Einspruch gegen Kriwizkij und Saslawskij erheben würde. Aber Fjodorow hatte sich umsonst gesorgt.
    »Gibt es Fragen an das Tribunal?«
    »Ja. Warum steht aus dem Bergwerk Dshelgala schon der dritte nach Artikel 58 Angeklagte vor dem Tribunal, und die Zeugen sind immer dieselben?«
    »Ihre Frage hat nichts mit dem Verfahren zu tun.«
    Ich war von der Härte des Urteils überzeugt – zu töten war in jenen Jahren Tradition. Und das Verfahren fand auch noch am Jahrestag des Kriegsbeginns statt, am 22. Juni. Nach etwa drei Minuten Beratung verkündeten die Mitglieder des Tribunals, es waren drei – »zehn Jahre plus fünf Jahre Aberkennung der staatsbürgerlichen Rechte.«
    »Der nächste!«
    Im Korridor gab es Bewegung, Stiefelgetrappel. Am nächsten Tag wurde ich ins Durchgangslager verlegt. Und es begann die von mir schon mehrfach erlebte Prozedur der Ausfertigung einer neuen Lagerakte – die endlosen Fingerabdrücke, Fragebögen und Photographieren. Jetzt hieß ich schon Soundso, Artikel achtundfünfzig, Punkt zehn, Haftzeit zehn Jahre plus fünf Aberkennung. Ich trug schon nicht mehr das Kürzel mit dem schrecklichen Buchstaben »T«. Das hatte beträchtliche Folgen und rettete mir vielleicht das Leben.
    ____
    Ich wußte nicht, was aus Nesterenko, aus Kriwizkij geworden ist. Es hieß, daß Kriwizkij gestorben sei. Saslawskij kehrte nach Moskau zurück und wurde Mitglied des Schriftstellerverbands, auch wenn er im Leben nichts geschrieben hat als Denunziationen. Ich sah ihn aus der Ferne. Trotz allem geht es nicht um die Saslawskijs und Kriwizkijs. Gleich nach dem Urteil hätte ich die Denunzianten und falschen Zeugen umbringen können. Ich hätte sie bestimmt umgebracht, wenn ich nach dem Verfahren nach Dshelgala zurückgekehrt wäre. Aber die Lagerordnung sieht vor, daß erneut Verurteilte niemals in dasselbe Lager zurückkehren, aus dem sie vor Gericht gebracht wurden.
    1960

Esperanto
    Ein Wanderschauspieler, Häftling und Schauspieler, hat mich an diese Geschichte erinnert. Nach einem Auftritt der Lager-Kulturbrigade nannte der Hauptdarsteller, zugleich auch Regisseur und Theaterzimmermann, den Namen Skorossejew
    Es sengte mir das Hirn, und ich erinnerte mich an das Durchgangslager im Jahr neununddreißig, die Typhusquarantäne und uns, fünf Mann, die wir sämtliche Abtransporte, alle Etappen und alles »Durchstehen« im Frost durchgehalten, durchgestanden hatten und dennoch vom Lagernetz eingefangen und in die endlosen Weiten der Tajga ausgeworfen wurden.
    Wir fünf hatten voneinander nichts erfahren, wußten nichts und wollten nichts wissen, bis die Etappe den Ort erreichte, wo wir arbeiten und leben mußten. Die Ankündigung der Etappe nahmen wir unterschiedlich auf: einer von uns wurde verrückt, weil er dachte, man führe ihn zur Erschießung, dabei führte man ihn ins Leben. Ein anderer trickste und hätte das Schicksal fast ausgetrickst. Der dritte – ich! – war ein Mensch aus der Goldmine, ein gleichgültiges Skelett. Der vierte ein Tausendkünstler und schon über siebzig. Der fünfte war – » Skorossejew «, sagte er und hob sich auf die Zehenspitzen, um jedem in die Augen zu schauen. »Bald säe ich ... Sie verstehen?«
    Mir war alles egal, und die Kalauer waren mir auf ewig ausgetrieben. Aber der Tausendkünstler hielt das Gespräch in Gang:
    »Als was

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