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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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ehemaliger Sekretär eines der sibirischen Gebietskomitees der Partei. Und die Zeugen waren immer dieselben – Kriwizkij und Saslawskij. Ich hatte diese Gespräche nicht beachtet.
    ____
    »Unterschreiben Sie hier. Und dann hier.«
    Ich mußte nicht lange warten. Am zwanzigsten Juni ging die Tür weit auf, und man führte mich auf die heiße braune Erde, in die blendende, sengende Sonne.
    »Nimm die Sachen entgegen – Schuhe, Schirmmütze. Du gehst nach Jagodnoje.«
    »Zu Fuß?«
    Zwei Soldaten betrachteten mich aufmerksam.
    »Der schafft es nicht«, sagte der eine. »Den nehmen wir nicht.«
    »Was heißt, nehmt ihr nicht«, sagte Fjodorow. »Ich rufe bei der Operativgruppe an.«
    Diese Soldaten waren keine echten Begleitposten, die im voraus bestellt, geordert werden. Die beiden Operativniki kehrten nach Jagodnoje zurück – achtzehn Werst durch die Tajga – und sollten mich unterwegs im Gefängnis von Jagodnoje abliefern.
    »Und was meinst du selbst?«, sagte ein Operativnik. »Schaffst du es?«
    »Ich weiß nicht.« Ich war vollkommen ruhig. Und hatte keinen Grund zur Eile. Die Sonne war zu heiß – sie versengte mir die Wangen, die vom grellen Licht und der frischen Luft entwöhnt waren. Ich setzte mich an einen Baum. Es war angenehm, im Freien zu sitzen und die kräftige staunenswerte Luft einzuatmen und den Duft der aufblühenden Heckenrose. Mir wurde schwindlig.
    »Gehen wir.«
    Wir gingen in den leuchtendgrünen Wald.
    »Kannst du schneller laufen?«
    »Nein.«
    Wir waren unendlich viele Schritte gegangen. Die Zweige der Weidengehölze peitschten mir ins Gesicht. Über Baumwurzeln stolpernd, arbeitete ich mich mühsam auf eine Waldwiese durch.
    »Hör zu, du«, sagte der ältere der Operativniki. »Wir wollen in Jagodnoje ins Kino. Um acht fängt es an. Im Klub. Jetzt ist es zwei Uhr mittags. Das ist unser erster freier Tag in diesem Sommer. Seit einem halben Jahr das erste Mal Kino.«
    Ich schwieg.
    Die Operativniki berieten sich.
    »Ruh dich aus«, sagte der junge. Er knöpfte seine Tasche auf. »Hier hast du Weißbrot. Ein Kilo. Iß, ruh dich aus – und dann gehen wir. Wenn das Kino nicht wäre – zum Teufel. Aber heute ist Kino.«
    Ich aß das Brot, leckte mir die Krümel vom Handteller, legte mich an den Bach und trank mich vorsichtig an dem kalten und köstlichen Bachwasser satt. Und verlor endgültig die Kräfte. Es war heiß, ich wollte nur schlafen.
    »Na? Kommst du?«
    Ich schwieg.
    Da begannen sie mich zu schlagen. Sie traten mich, und ich schrie und verbarg das Gesicht in den Händen. Übrigens schlugen sie nicht ins Gesicht – das waren erfahrene Leute.
    Sie schlugen mich lange, sorgfältig. Und je mehr sie mich schlugen, desto klarer wurde, daß sich unser gemeinsamer Marsch ins Gefängnis nicht beschleunigen ließ.
    Viele Stunden schleppten wir uns durch den Wald und kamen in der Abenddämmerung an der Trasse an – an der Chaussee, die sich durch das gesamte Kolymagebiet zog, der Chaussee zwischen Felsen und Sümpfen, der zweitausend Kilometer langen Straße, ganz »von Hacke und Schubkarre«, ohne jede Maschine gebaut.
    ____
    Ich hatte fast das Bewußtsein verloren und konnte mich kaum bewegen, als ich beim Isolator von Jagodnoje abgeliefert wurde. Die Zellentür wurde aufgerissen, öffnete sich, und die erfahrenen Hände des Türdienstes DRÜCKTEN mich hinein. Man hörte nur den schnellen Atem von Menschen. Nach etwa zehn Minuten versuchte ich mich auf den Boden sinken zu lassen und legte mich an einer Säule unter die Pritsche. Noch etwas später krochen in der Zelle einsitzende Diebe zu mir heran – um mich zu durchsuchen, mir etwas abzunehmen, aber ihre Hoffnung auf Ausbeute war vergeblich. Außer Läusen hatte ich nichts. Und zum gereizten Geheul der enttäuschten Ganoven schlief ich ein.
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    Am folgenden Tag wurde ich um drei Uhr zur Verhandlung gerufen.
    Es war sehr stickig. Keine Luft zum Atmen. Sechs Jahre war ich rund um die Uhr an der frischen Luft gewesen, und mir war unerträglich heiß in dem winzigen Zimmer des Militärtribunals. Die größere Hälfte des Zwölf-Quadratmeter-Zimmerchens war dem Tribunal zugewiesen, das hinter einer hölzernen Barriere saß, die kleinere den Angeklagten, den Begleitposten und den Zeugen. Ich sah Saslawskij, Kriwizkij und Nesterenko. Grobe ungestrichene Bänke standen entlang der Wand. Zwei Sprossenfenster, nach der Kolyma-Mode, mit kleinen Scheiben wie auf Surikows Bild von Menschikows Hütte in Berjosowo. In diesen Rahmen wurde

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