Linksaufsteher: Ein Montagsroman
berühren.
Ich spreize meine Finger und beginne mein Supermarktkonzept herunterzutippen. Es tut so gut, das endlich mal Leuten zu erzählen, die mich verstehen. Die Sätze fließen mühelos aus mir heraus. Schon nach wenigen Minuten kann ich den Text veröffentlichen.
So, was jetzt? Nachricht von ruderfrosch. Noch von gestern Vormittag.
WOHER KENNST DU RÜDIGER RODEO?
Ich brauche einen Moment, aber dann wird mir alles klar. Die Freundschaftsanfragen. Die Einladungen. Der ehrfürchtige Blick von Apfelsinchen. Alles nur, weil ich mit diesem Mann mit dem Strohhut und den komischen Wörtern an einem Tisch gesessen habe! Als wäre er der König. Haha. König einer postpluralistisch-romantofaschistischen Feudalnischengesellschaft. Nachricht an ruderfrosch:
Rüdiger Rodeo? Kenn ich nicht. Wer isn das?
So. Laptop zu. Schon komisch, diese Facebook-Leute. Kindisch bis zum Gehtnichtmehr, aber dann wieder so wichtige Sachen wie die Supermarktkonzeptionalisten erfinden. Trotzdem, noch lange kein Grund, internetsüchtig zu werden.
Ich klaube die rausgehusteten Brötchenreste von der Tischplatte und trage sie zum Küchenmüll. Die Spülmaschine müsste ich mal ausräumen. Und die Wäsche liegt, glaube ich, auch schon seit gestern in der Waschmaschine … Ob ich vielleicht vorher noch mal schnell bei Facebook schaue, ob schon jemand mein Supermarktkonzept kommentiert hat?
Mittwoch
Unglaublich, wie viel Zeit man mit Facebook verbringen kann. Und noch noch unglaublicher, wie man darüber die wichtigen Dinge vernachlässigt. Morgen ist der entscheidende Tag und ich kann jetzt nicht mehr einfach so tun, als ob alles noch in weiter Ferne liegt. Früher konnte ich mir zwar, wenn es drauf ankam, durchaus einreden, dass bis morgen noch ein paar gefühlte Monate vergehen, aber dafür bin ich inzwischen zu alt. Ich habe noch 24 Stunden zur Verfügung, um mir zu überlegen, wie ich morgen meiner Plötzlich-Liebe begegne. Gefühlt und in echt. Es gibt keinen Aufschub und keine Ausreden mehr. Blöde Lebenserfahrung.
Ein ausgetüftelter Plan muss her. Und er soll genau das Gegenteil von Sei du selbst sein. Wenn Sei du selbst so gründlich in die Hose gegangen ist, dann kann ich mit dem genauen Gegenteil davon auf keinen Fall falschliegen. Und Planung ist doch für einen erfahrenen Supermarktkonzeptionalisten wie mich eine Kleinigkeit. Ich habe zig Mal nachgesehen. Mein Supermarktkonzept hat am Ende 21 »Gefällt mir«-Markierungen bekommen und Rüdiger Rodeo hat höchstpersönlich mein Prinzip, alle Artikel mindestens ein Mal zu kaufen, als deduktiv-holistisches Konsumieren geadelt. Nicht, dass mir das irgendwas bedeutet, aber es zeigt doch, dass etwas Tragfähiges herauskommt, wenn ich eine Sache mit Verstand angehe.
Ich werde also für morgen jeden einzelnen meiner Schritte im Coffee & Bytes genau durchplanen. Jede Geste, jeden Blick. Alles wird auf mein großes einziges Ziel ausgerichtet sein: Endlich das Eis zwischen der Frau-mit-dem-iKoffer-in-die-ich-aus-nicht-erklärbaren-Gründen-seit-drei-Wochen-verliebt-bin-und-deren-Namen-ich-noch-nicht-einmal-Weiß und mir zu schmelzen. Ich setze mich an meinen Schreibtisch und fange an.
***
Fertig. Ich strecke meinen Rücken durch und merke, dass ich mindestens drei Stunden lang abartig krumm dagesessen haben muss. Egal. Ich betrachte die sechs vollgeschriebenen Seiten vor mir. Für jeden anderen ein unverständliches Wirrwarr aus eingekreisten Texten, farbigen Verbindungslinien, Pfeilen und dem Grundriss des Coffee & Bytes. Für mich aber sind die Blätter ein Pfad aus marmornen Trittplatten, die, eingelassen in den feinen Rasen eines englischen Gartens, hin zu einem weißen Pavillon des Glücks führen. Alles ist durchgeplant, nichts kann schiefgehen.
Es ist gar nicht so schwer, wenn man sich richtig reindenkt. Ich habe fünf verschiedene Gesprächseröffnungen und doppelt so viele Gesprächsthemen und noch mal so viele Brücken zwischen den Themen. Ich habe Gesichtsausdrücke, die ich zu den Themen aufsetzen werde, ich habe Gesten zu bestimmten Sätzen, ich habe Pointen aus allen mir bekannten Spielarten des Humors. Und ich habe mir Varianten für sämtliche räumliche Situationen, in denen wir uns morgen gegenüberstehen könnten, zurechtgelegt. Was tue ich, wenn mein Tisch besetzt ist? Was, wenn ihrer besetzt ist? Was, wenn sie an meinem Tisch sitzt? Was, wenn sie sich mit Absicht woandershin setzt? Da ist nicht die kleinste Lücke
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