Linna singt
Licht machen. Er wird versuchen, im Dunkeln zu schreiben. Aber womit? Die Stifte … oh nein, die Stifte! Sie liegen doch auf der Ablage des gekippten Flipcharts über uns! Warum haben wir daran nicht gedacht? Wenn Jules wieder eine Botschaft an die Wand schmieren will, wird er sich einen der Stifte greifen, nur wenige Zentimeter von uns entfernt! Wie kann er das tun und uns nicht dabei wahrnehmen? Und hätten wir uns nicht eigentlich längst bemerkbar machen sollen? Immerhin ist er einer von uns, einer von uns ist in Not und … Da. Jetzt bin ich diejenige, die vor Anspannung so fest zupackt, dass es Falk Schmerzen bereiten muss, doch er gibt keinen Mucks von sich, als das Rascheln direkt über uns verrät, dass Jules nach dem Stift sucht. Er will nicht warten, bis er mehr sehen kann, er hat es eilig, will es jetzt tun … Es ist ihm dringlich …
Mit einem metallenen Klackern fällt einer der Stifte zu Boden und rollt gegen meine Fußspitze. Oh, verdammt. Blitzschnell hebe ich meinen Schuh an und schon einen Sekundenbruchteil später höre ich, wie eine Hand über den Boden tastet, nur wenige Zentimeter von unseren Beinen entfernt. Mach schnell, denke ich flehentlich, beeil dich, ich kann nicht mehr lange die Luft anhalten. Aber ich weiß genau: Wenn er mich berührt, werde ich zutreten, ich kann nicht anders. Ich fühle Mitleid mit ihm und doch bin ich fast krank vor Angst und Abscheu. Ein kalter, kalkulierender Täter wäre mir lieber gewesen, ein Täter ohne jegliche Gefühlsregung, auch wenn das bedeuten würde, dass einer von uns herzlos und frei von jedem Skrupel gegen mich arbeitet. Das ist dein Feind, Linna, versuche ich mir einzureden, dein Feind! Also gönne dir kein Mitleid und schiebe deine Angst beiseite und …
Ich höre, wie Jules sich mit dem Ärmel über das Gesicht wischt, ein nasses, schleimiges Geräusch, und sich wieder aufrichtet. Meine Lungen schmerzen so sehr, dass ich glaube, schreien zu müssen, doch stattdessen atme ich nur lautlos durch die Nase aus, um sofort frische Luft nachströmen zu lassen. Ich rieche nichts, doch ich spüre, dass er nicht mehr dicht bei uns ist. Jetzt hören wir es auch, er fängt von Neuem an zu weinen, nun noch lauter und ungehemmter, aber trotzdem ohne Stimme, als habe er sich müde geweint und glaube selbst nicht, was er da tue.
Das Quietschen des Stiftes, hastig und abgehackt, kommt mir vor wie eine Wohltat. Ich konzentriere mich fest darauf, versuche, die Buchstaben herauszuhören, doch das Weinen macht es mir unmöglich; ich ertrage es kaum mehr. Genauso, wie ich es nicht ertrage, wenn Maggie wegen mir weint. Ist das hier vielleicht Maggie? Und gar nicht Jules? Maggie ist die Einzige von uns, die ständig weint, die Einzige, die ihre Gefühle nicht im Griff hat, die Einzige, die mir unentwegt misstraut und mich fürchtet. Bitte nicht, flehe ich stumm. Nicht Maggie. Es ist ohnehin schwer für mich wahrzuhaben, dass es einer von uns ist, der nun wenige Meter von uns entfernt an der Wand steht und etwas auf die Tapete kritzelt. Das will nicht in meinen Kopf. Aber Maggie hat mehr als nur ein Motiv.
Das Kritzeln des Stiftes bricht abrupt ab. Das war alles? Es muss eine kurze Botschaft sein, sehr kurz, oder … Meine Gedanken stieben jäh auseinander, sobald die Schritte sich uns wieder nähern, dieses Mal ohne Bemühen, leise zu sein. So bewegt sich nur jemand, der auf der Flucht ist, und wahrscheinlich ist es vor allem eine Flucht vor sich selbst.
Ich kneife meine Lider fest zusammen, als der Stift direkt über unseren Köpfen zurück auf den Flipchart gelegt wird. Wir müssen doch zu sehen sein, so dunkel ist es hier drinnen nicht! Und warum tut Falk nichts? Warum bleibt er sitzen, wollten wir dem Täter nicht das Handwerk legen?
Aber ich bin selbst wie gelähmt und verharre mit steifem Rücken, meine Hände in Falks Händen, bis ich mir sicher bin, dass wir wieder allein sind. Ja, die Tür ist zu, der Luftzug hat sich gelegt. Jetzt höre ich auch die Bodendiele von vorhin knirschen. Der Täter ist auf dem Weg nach unten. Trotzdem finde ich nicht die Geistesgegenwart, mich zu rühren oder etwas zu sagen. Noch immer hallt das Schluchzen in meinen Ohren wider.
Es sollte mich beruhigen, denn ob es von Maggie kam oder nicht: Derjenige, der diese Dinge plant und umsetzt, tut es nicht gerne, sonst würde er nicht dabei weinen. Er tut es, weil ihn etwas quält, doch dieses Wissen verstärkt den lähmenden Horror in mir nur, anstatt ihn zu dämpfen.
»Shit«,
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