Lions - Hitze der Nacht
vorbeikommen würde. Sie waren schon so lange Reisegefährten, dass sie die Stimmungen der anderen wie die eigenen kannten. Jetzt standen die zwei Freundinnen vor einem schicken New Yorker Hotel in der beißenden Kälte, und ihr Leben war dabei, eine neue Wendung zu nehmen – ob zum Guten oder zum Schlechten.
»Hab heute meine Momma angerufen«, gab Ronnie zu.
»Mensch, Mädchen! Warum denn das?«
»Eine masochistische Ader, schätze ich.«
»Ich glaube auch.« Sissy lehnte sich neben sie an die Wand. »Hat sie dir gesagt, dass deine Brüder auf dem Weg hierher sind?«
Ronnie seufzte, lang und schwer. »Nein. Das hat sie versäumt zu erwähnen.«
»Wahrscheinlich wollte sie, dass es eine Überraschung wird.« Wahrscheinlich. Ronnie hatte bei dem angespannten Telefongespräch gemerkt, dass ihre Mutter wusste, dass etwas vor sich ging. Höchstwahrscheinlich hoffte sie, ihre Brüder würden es herausbekommen und ihr berichten. Dann könnte sie Ronnie richtig an den Hals springen.
Wenn ihre Brüder erst hier waren, war die Party mit Shaw vorbei. Sie musste sie heute Abend nicht sehen, aber bis morgen früh würden sie sie sicherlich aufgespürt haben. Sie schätzte, dass sie noch eine gute Nacht mit ihrem Löwen hatte, dann würde sie gehen müssen. Das verschaffte ihr die perfekte Entschuldigung. Zumindest redete sie sich das selbst ein.
»Hat sie dir gesagt, du seist ein hoffnungsloser Fall und zu nichts nütze?«
»Nein. Diesmal ging es darum, dass es mir nicht einmal wichtig genug war, an Weihnachten anzurufen, und wie ich so gemein zu meinem Daddy sein könne. Oh. Und es gab viel Geseufze.«
»Bei deiner Momma gibt es immer viel Geseufze. Wusstest du das nicht? Die Last der Welt liegt auf ihren Schultern!« Sissy Mae schubste Ronnie mit der Schulter. »Sie liebt dich, Rhonda Lee. Auf ihre eigene natterngiftige Alle-sind-gegen-sie-Art.«
»Ja. Das tut sie wohl.«
»Was wirst du ihr von Shaw erzählen?«
»Nichts. Warum?«
»Was meinst du mit warum? Du musst deiner Momma etwas erzählen. Der Junge ist so in dich verliebt, der kann nicht mal mehr geradeaus schauen!«
Ronnie war immer die Vernünftige gewesen. Diejenige, die – es sei denn, sie war ernsthaft betrunken – immer sagte: »Wollen wir das wirklich tun?« Aber diese wunderbare Vernunft ging eindeutig baden, als sie ihre Faust nach Sissys Gesicht schwang.
Sissy Mae fing die Faust ab. Innerhalb eines Augenblicks verwandelten sich ihre Augen vom freundlichen Menschen zur Alphawölfin, und sie drückte Ronnie mit dem Rücken gegen die Wand. Alphafrau zu werden war um nichts einfacher, als Alphamann zu werden. Man brauchte seinen Verstand und die Fähigkeit, in Bruchteilen von Sekunden Entscheidungen zu treffen. Außerdem musste man in der Lage sein, Leuten eine Höllenangst einzujagen. Als Sissy sich zu Ronnie vorbeugte, ihre perlweißen Reißzähne entblößte und brutal knurrte, wusste Ronnie, dass sie zu weit gegangen war.
Sie drehte den Kopf zur Seite, drückte sich an die Wand und duckte sich, als Sissy auf Haaresbreite an ihr Gesicht herankam, knurrte und schnappte. Als sie klarstellte, wer das Alphaweibchen war und wer nur Beta.
Ronnie hielt den Blick gesenkt und ihren Körper unterwürfig gebeugt. Hätte sie ihren Schwanz gehabt, hätte sie ihn zwischen die Beine geklemmt. Als Sissy Mae fand, dass sie sich genug geduckt hatte, ließ sie Ronnies Hand los und trat zurück.
»Eines Tages wirst du deiner Momma von Shaw erzählen müssen. Erstens weil deine Brüder bemerken werden, dass sich eine Großkatze schnurrend an dir reibt. Zweitens weil der Junge so schnell nicht von dir weggehen wird, Ronnie Lee. Also kannst du dich auch genauso gut daran gewöhnen.«
Ronnie wusste nicht, ob sie ihre Freundin gerade mehr hasste, weil sie sie gezwungen hatte, sich zu ducken … oder weil sie recht hatte.
Nach fünf vollen Stunden Streit verlor Brendon die Geduld und stürmte aus der Suite. Mitch und Marissa bemerkten es nicht einmal.
Schlaf. Ein paar Stunden Schlaf, und er wusste, er würde sich viel besser und um einiges weniger elend fühlen. Denn nachdem er den Schiedsrichter zwischen den beiden gespielt hatte, fühlte er sich wirklich elend.
Er betrat seine Wohnung und ging in die Küche. Als er die Schwingtür aufdrückte, erstarrte er.
Sie saß an seinem Küchentresen, eine Zeitschrift aufgeschlagen vor sich, daneben ein Häufchen M&M s. Was ihn am meisten beunruhigte, war, dass sie die Farben sortiert hatte. Schwarze und rote auf
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