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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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…«
    »Ich weiß: EINE ALTE FRAU !« Dann kam mir ein Gedanke: »Was wirst du eigentlich tun, wenn ich alt bin? Wirst du dann auch so verständnisvoll sein, auch wenn ich nur noch nerve?«
    »Das tust du doch jetzt schon«, sagte Ida und lachte.

Krankheit als Hobby
    A ls meine Mutter jünger war, hatte sie noch allerlei Interessen. Sie besuchte zum Beispiel gern Kunstausstellungen und Lesungen. Im Sommer ging sie täglich ins Schwimmbad – weniger zum Schwimmen als zum Sonnen. Sie interessierte sich für Mode und ging gern shoppen.
    Für solche Dinge ist sie heute viel zu schlecht drauf. Sie hat jetzt ein anderes Hobby: Krankheiten. Sie investiert eine Menge Zeit darauf. Zum Beispiel schaut sie sich schon seit Jahren keine Spielfilme mehr im Fernsehen an, sondern fast nur noch Sendungen, in denen es um Krankheiten geht.
    Leider ist es nicht so, dass Mama durch ihre intensive Beschäftigung mit Krankheiten zu einer Gesundheitsexpertin geworden wäre, sondern eher das Gegenteil ist der Fall: Sie scheint irgendwie gar nichts mitzunehmen außer so einer Art Gruseleffekt. Gesundheitssendungen sind für sie das Gleiche wie für andere Leute Horrorfilme. Schlimmer noch: Wer einen Horrorfilm sieht, etwa über Zombies, der fürchtet kaum, sich selbst in einen zu verwandeln. Doch wenn Mama von einer Krankheit hört, dann glaubt sie sofort, dass sie die auch bald bekommt.
    »Stell dir vor, neulich habe ich eine Sendung gesehen, da haben sie einer Frau das Bein amputiert, und jetzt habe ich solche Angst, mir könnte das auch passieren!«
    »Was du immer so im Fernsehen siehst! Kein Arzt amputiert irgendjemandem einfach so ein Bein!«, sagte ich. »Also beruhige dich, du darfst ganz sicher beide Beine behalten!«
    Dann stellte sich heraus, dass die arme Frau ohne Bein, die im Fernsehen vorgestellt wurde, an schwerer Diabetes litt. Deswegen die Amputation.
    »Du hast doch aber gar keine Diabetes!«, sagte ich.
    »Äh – nein!«, gab meine Mutter zu. Aber sie wirkte nicht gerade beruhigt. Es gibt nämlich keine Entwarnung für sie. Es gibt grundsätzlich niemals eine Entwarnung, wenn es um alte Leute und Krankheiten geht: Denn was man noch nicht hat, das kann man ja noch kriegen.
    Gesund ist Mama tatsächlich nicht. Sie hat Depressionen. Ein Symptom davon ist ihre Hypochondrie. Gut zehn Jahre lang hat Mama deswegen fast keine Familienfeier besucht und mich (und auch sonst niemanden) niemals zu Hause aufgesucht. Begründung: zu krank. Angeblich waren ihre Rückenschmerzen zu stark, um ausgehen zu können. Sie behauptete immer, sie müsse darum so viele Tabletten nehmen, dass sie Angst habe, sich zu vergiften. Das klang schon sehr besorgniserregend. Trotzdem war mir die ganze Zeit klar, dass sie fast täglich »heimlich« zum Bummeln in die Innenstadt ging, weil ihr das immer noch viel Spaß machte. Vielleicht hatte sie einfach keine Lust auf andere Menschen, und das war ja auch ihr gutes Recht.
    Seit Mama Demenz hat, kann sie uns bezüglich ihrer Schmerzmittel aber nichts mehr vormachen. Sie kann keinem mehr etwas vormachen. Das klingt wie eine Redensart, aber ich meine es wörtlich: Wenn ich sie frage, wie viele Tabletten sie gegen die Schmerzen braucht, dann nennt sie die genaue Anzahl. Offenbar hat sie durch die Demenz das Schummeln verlernt. Da stellte sich dann heraus, dass die Schmerzen gar nicht so schlimm sein können, wie sie es immer dargestellt hatte: Tatsächlich helfen schon paar leichte Mittel dagegen.
    »Hast du denn derzeit wieder Schmerzen in Rücken und Bein?«, frage ich beispielsweise.
    »Und wie!«, sagt Mama.
    »Brauchst du gerade Schmerzmittel?«, frage ich.
    »Oh ja, ich nehme Paracetamol«, antwortet sie.
    »Wie viele denn?«
    »Unglaublich viele. Ich habe regelrecht Angst, mich zu vergiften.«
    »Wie viele pro Tag?«
    »Vor zwei Tagen habe ich eine Tablette genommen«, sagt Mama wahrheitsgemäß.
    »Und das hat gereicht?«
    »Ja, seitdem tut es nicht mehr weh!«
    Na dann!
    Mamas Demenz hat in diesem Stadium noch einen guten Nebeneffekt: Gehorsamkeit. Man muss nur sehr bestimmt auftreten, und sie tut, was man sagt.
    Manchmal rufe ich jetzt also an und sage sehr energisch: »Morgen Mittag gehen wir alle zusammen mit dir in den Biergarten zum Essen. Ich hole dich um 13 Uhr ab!«
    »Oh Gott, oh Gott!«, stöhnt Mama dann auf, in einem Tonfall, als habe man angekündigt, am nächsten Tag würde man sie zur Schlachtbank führen. Aber sie widerspricht nicht. Pünktlich sitzt sie fertig angezogen auf der Couch

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