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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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nämlich mal Stadträtin und darum in der Gemeinde eine bekannte Frau. Das hat Ömi damals aber nicht davon abgehalten, ihr ganz normales Leben zu leben und einfach im Sommer im Badesee schwimmen zu gehen. Doch ganz urplötzlich hörte sie damit auf. Sie hatte zum Beispiel Angst, von ehemaligen Angestellten ihrer alten Firma angesprochen zu werden, sagt sie.
    »Manchmal wollten die Leute sogar Rechtstipps!«, beschwerte sie sich empört. Ömi war ja auch Personalrätin gewesen.
    »Na und, dann gib ihnen doch Rechtstipps«, kommentierte mein Mann ihre Verweigerung. »Was hast du denn sonst schon den ganzen Tag zu tun!«
    Aber Ömi wollte nicht mehr. Keiner sollte Ömi ansprechen, keiner. Ömi tat, als wäre sie Angelina Jolie und alle anderen Leute lästige Paparazzi, die sie auf Schritt und Tritt verfolgten.
    Die Angst weitete sich dann noch aus: Als sie früher noch selbst Hunde hatte (erst den einen, der immer dicker wurde, dann den anderen, der immer dicker wurde), ging sie immer schon um fünf Uhr morgens mit ihnen raus: damit keiner sie sehen und belästigen konnte, wenn sie den Hund Gassi führte.
    Sie begann außerdem, schon um sieben (oder noch früher) beim Bäcker zu stehen und schon kurz vor acht an der Tür vom Supermarkt, wenn außer ihr fast noch niemand da war. Nur, damit niemand sie sehen und ansprechen konnte. Und dann sitzt sie den Rest des Tages ohne Ansprache zu Hause und langweilt sich.
    Mal abgesehen von einer Reihe alter Herrschaften gibt es gar nicht mehr so viele Leute, die Ömi noch als Stadträtin kannten, denn das ist schon Jahrzehnte her. Sie steht aber immer noch jeden Morgen schon ab etwa 6 Uhr 55 vor der Bäckerei, um bloß keine anderen Kunden zu treffen. Und sie geht nie hinunter zum Badesteg. Nicht einmal mit den Enkelkindern. »Ich habe ja nicht mal mehr einen Badeanzug!«, sagt sie oft voller Stolz, als handle es sich dabei um eine Auszeichnung: den Badeanzug-Verweigerungsorden!
    Ich bin allerdings überzeugt, dass sie mittlerweile nicht auf das Baden im See verzichtet, weil sie Angst hat, erkannt und belästigt zu werden. Ich glaube eher, dass sie nicht baden geht, weil es passieren könnte, dass keiner sie mehr erkennt: Auch das kann Angst machen!
    Mama hat mittlerweile vor so gut wie allem Angst: nicht nur vor dem Wasserboiler, sondern auch vor der Geschirrspülmaschine (sie spült deshalb von Hand), der Waschmaschine (sie wäscht auch von Hand) und dem Geldautomaten (sie holt ihr Geld am Bankschalter). Wahrscheinlich sitzt sie auch bald abends im Dunkeln, weil sie Angst vor dem Lichtschalter bekommt, und isst nur noch kalt, aus Furcht vor dem Herd. Oder sie isst nur lauwarm – weil sie sich nicht mehr traut, den Kühlschrank zu benutzen.
    Die Ängste und Depressionen meiner Mutter schlagen dabei die merkwürdigsten Kapriolen: Einmal musste sie sich einer leichten Operation am Rücken unterziehen. Alles lief gut, gleich nach der Narkose wurde sie wieder auf die Beine gestellt und durfte die ersten Schritte tun, und nach vier Tagen sollte sie gemeinsam mit anderen frisch Operierten per Krankentransport in die Reha verfrachtet werden. Doch eines Tages traf ich sie in der Klink in heller Aufregung an: Alle dürften zur Reha, nur sie nicht. Das sei wieder mal typisch! Immer werde sie ungerecht behandelt, keiner kümmere sich richtig um sie.
    Ich sofort zum Stationsarzt. »Ihre Mutter wollte gar nicht in die Reha«, sagte der. »Sie hat mich regelrecht angefleht, sie nicht dort hinzuschicken.«
    Wie bitte?
    Der Arzt zuckte die Schultern: »Ich habe ihr natürlich erklärt, dass sie zu Hause nicht so gut nachbetreut werden kann. Vielleicht können Sie noch mal mit ihr sprechen?«
    Das tat ich, und allmählich kristallisierte sich heraus, was passiert war: »Herr Doktor, muss ich denn zu Reha?«, hatte Mama in ihrer üblichen, tieftraurigen Art gefragt.
    Der Arzt: »Das wäre schon sehr wichtig!«
    Mama (mit Grabesstimme): »Ja, aber MUSS es denn unbedingt sein?«
    Arzt: »Also, da können Sie nun mal am besten von den Physiotherapeuten betreut werden.«
    Mama (völlig down): »Aber geht es denn gar nicht anders?«
    Arzt: »Nun, es wäre wirklich sehr wichtig für den Heilungserfolg!«
    Mama, den Tränen nahe: »Kann man das denn gar nicht umgehen?«
    Arzt: »Na gut, wenn Sie unbedingt wollen …«
    »Ich hab doch nur mal gefragt!«, sagte Mama, als ich den Gesprächsablauf rekonstruiert hatte. » ER muss mir doch sagen, ob eine Reha nötig ist. ER muss doch wissen, ob ich wirklich

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