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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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tun höchst merkwürdige Dinge. Die jüngeren wissen es nur meistens nicht. Oft stellen sich die sonderbaren Verhaltensweisen nur durch Zufälle heraus.
    Bei Mama waren es zum Beispiel die Schlafgewohnheiten: Wenn sie nicht ständig auf dem Sofa herumgelegen wäre, wäre ich kaum auf die Idee gekommen, genauer nachzufragen. So aber fand ich es heraus: Sie schläft gar nicht mehr in ihrem Bett in ihrem Schlafzimmer. Sie schläft auch nicht in meinem alten Kinderzimmer, wo sie oft bei meiner Tochter übernachtete, als die noch klein war und mitunter bei ihr über Nacht blieb. Sie schläft immer auf dem ausgeleierten alten Sofa, während der Fernseher läuft: Sie hat Angst davor, anderswo zu schlafen.
    »Hier bin ich mittendrin im Leben«, sagt Mama und meint mit Leben: das TV -Programm. »Da fürchte ich mich nicht!«
    Anscheinend fürchtet Mama nämlich allerhand: zum Beispiel den Warmwasserboiler.
    Auch das kam nur durch einen Zufall heraus: Oft gehe ich morgens vor der Arbeit zum Schwimmen, das tut meinem Rücken gut (Rückenprobleme sind in unserer Familie genetisch bedingt). Eines Tages aber stand ich beim Schwimmbad vor verschlossener Tür: »Wegen Revision geschlossen«, stand auf einem Schild am Eingang. Ungeduscht und mit wirrem Haar wollte ich aber ungern weiterfahren und ins Büro gehen. Da kam ich auf die Idee, zum Duschen bei meiner Mutter haltzumachen, die unweit des Schwimmbads wohnt.
    Es war ihr ein wenig unangenehm, das merkte ich gleich, und sie bot mir an, Wasser in einer Schüssel zu wärmen. Im Bad gäbe es schon seit einigen Jahren kein Warmwasser mehr. Mama hat Angst, der alte Boiler könnte unversehens einen Kurzschluss bekommen, deswegen lässt sie ihn ausgeschaltet. Ein Kurzschluss ist zwar noch nie vorgekommen, deswegen wollte ich das Gerät kurzerhand einschalten, aber da wurde sie so hysterisch, dass ich es bleiben ließ und kalt duschte.
    Das war ein ziemlicher Schock am frühen Morgen, und ich hätte Mama derart durchblutungsfördernde Maßnahmen gar nicht zugetraut. »Respekt«, sagte ich deshalb, als ich fertig war.
    Bis sich dann rausstellte, dass Mama auch schon lange nicht mehr duschte. Sie behauptet, sie käme nicht mehr über den Rand der Wanne. Deswegen wäscht sie sich »ganz gründlich von Kopf bis Fuß« mit einem Schwamm am Waschbecken. Kalt. Schon seit Jahren. »Das ist ja schlimmer als im Mittelalter!«, empörte ich mich, aber Mama tat, als höre sie nicht.
    Ich habe ja schon erzählt, dass Mama ihre alten Haarfärbemittel teilweise jahrelang aufbewahrte. Es gibt (und gab) aber noch ein weiteres Problem beim Haarefärben: Sobald Mama schwitzt oder ein wenig in den Nieselregen kommt, tropfen immer dunkle Flecken aus ihrem frisch gefärbten Haar auf die Kleidung. Übrigens nicht nur in den ersten Tagen nach dem Färben, sondern wochenlang. Dabei schwor sie jahrelang, das Färbemittel wirklich gut auszuwaschen, so lange, bis das abfließende Wasser klar sei. Aber mit kaltem Wasser genügt das natürlich nicht.
    »Darum färbt dein Haar immer ab!«, ging mir endlich ein Licht auf. »Du wäschst das Färbemittel mit eiskaltem Wasser aus!«
    Die Antwort war ein besonders böser Kugelblitzblick: »Na und!«, sagte Mama. »Warm oder kalt – das ist doch wohl so was von egal!«
    Aber das denke ich nicht, deswegen sagte ich: »Komm, Mama, plag dich doch in deinem Alter mit so etwas wie Haarefärben nicht herum. Wenn du willst, melde ich dich zum Friseur an!«
    »Was soll ich denn beim Friseur?!«, war die Antwort. »Da kann ich ja nicht auf dem Sofa liegen. Ich muss aber auf dem Sofa liegen. Sonst tut mir der Rücken weh!« Und egal, was ich noch sagte: Es war hoffnungslos. Der Trick mit dem sehr bestimmten Befehlston funktioniert leider nicht immer.
    Ängste sind natürlich ein Symptom von Depressionen. Auch Ömi hat so ihre merkwürdigen Ängste, und auch sie schon seit ziemlich langer Zeit. Zum Beispiel badet sie seit ein paar Jahrzehnten nicht mehr im See.
    Das wäre nicht besonders erwähnenswert, wenn der Badesee in ihrem Fall nicht direkt in Sichtweite ihres Hauses wäre. Ungefähr fünfzig Jahre ihres Lebens schwamm sie regelmäßig, täglich, jeden Sommer. Plötzlich, von einem Tag auf den anderen, war es damit vorbei. Es ist aber nicht so, dass sie plötzlich Angst hätte unterzugehen oder Ähnliches. Es ist ganz anders: Sie hat Angst, gesehen zu werden.
    Nicht: im Badeanzug gesehen zu werden (das sei ihr egal, sagt sie), sondern überhaupt gesehen zu werden. Ömi war

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