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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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eine Reha brauche, ER ist doch der Arzt …«
    »Ja, ja, schon gut!«, sagte ich und nahm die Sache in die Hand.
    Sie fuhr also in Reha, und sie hatte Glück: Es war die beste, schönste und beliebteste Reha-Klinik im ganzen Alpenvorland. Als ich sie besuchen kam, verstand ich sofort, warum: Der riesige Garten mit den lauschigen Schattenplätzchen war das reinste Blumenmeer, und von den großen Balkonen, über die jedes Zimmer verfügte, hatte man einen grandiosen Alpenblick.
    Es war ein milder Spätsommertag, und ich dachte, dass meine Mutter sicher, wie alle anderen Patienten, irgendwo auf einer dieser hübschen Holzbänke im Schatten sitzen würde – wer weiß, vielleicht sogar mit einem Kurschatten neben sich.
    Doch ich traf sie in ihrem Zimmer an, vor dem Fernseher: die Vorhänge zugezogen, die Beine hochgelegt.
    »Warum gehst du denn nicht raus, wie alle anderen auch?«, wunderte ich mich.
    »Ich habe Angst, das wäre schlecht für den Heilungserfolg«, sagte Mama.
    »Verbietet es denn der Arzt?«, fragte ich.
    »Nein, im Gegenteil. Aber ich traue mich nicht«, antwortete sie.
    Das alles ist total krank. Tatsächlich, im Wortsinn: Angststörung ist der Fachterminus. Die Depressionen und ihre Erscheinungsformen sind nämlich ein Nebenprodukt von Mamas Demenz. Das hatte mir nur leider keiner erklärt, und auch in dem Faltblatt mit dem Titel »Die Alzheimer-Demenz«, das der Neurologe mir mal in die Hand gedrückt hatte, stand das so nicht drin (oder ich habe es im ersten Schock irgendwie überlesen).
    Als ich Mamas Ängste vor dem Wasserboiler nun einmal erwähnte, schlug der Neurologe dann aber die Hände über dem Kopf zusammen und stöhnte: »Du liebe Güte! Warum sagen Sie denn nichts?!« Dann erhöhte er die Dosis von Mamas Antidepressiva. Jetzt warten wir nur noch darauf, dass sie endlich wirken, und das dauert schon ganz schön lang.
    Zuerst wollte Mama die Antidepressiva gar nicht in höherer Dosierung nehmen. Im Gegenteil – sie wollte sie ganz absetzen. Weil sie Angst hat, natürlich. Sie fürchtet, abhängig von den Tabletten zu werden. Und überhaupt: »Ich verstehe nicht, was ich damit soll?!? Ich war noch nie in meinem Leben depressiv!«, behauptete sie.
    »Nein, du warst immer schon die reinste Stimmungskanone!«, wollte ich gerade sagen – aber dann fiel mir eine andere Strategie ein:
    »Keine Sorge wegen der Tabletten, ich habe selbst zwei Jahre lang Citalopram (so heißt ihr Medikament) genommen. Hat mir total gutgetan!«
    Mama klappte vor Überraschung die Kinnlade herunter: »Du hast Psychopharmaka geschluckt? Aber warum denn in aller Welt?«
    »Weil, weil … wegen der Wechseljahre! Außerdem schluckt doch heute die ganze Welt Psychopharmaka, das ist doch kein Problem!«
    »Ich wusste gar nicht, dass du schon in den Wechseljahren bist. Bist du dafür nicht zu jung?«, fragte Mama (mit Zahlen und Ähnlichem kommt sie ja, wie gesagt, nach wie vor ganz gut klar).
    »Ähm, ja, die Wechseljahre haben bei mir eben früh angefangen. Deswegen auch die Depressionen. Wahnsinns-Depressionen! Und jetzt: komplett weg! Dank Citalopram!«
    »Na, wenn du meinst«, sagte Mama. »Dann mache ich das jetzt eben auch.« (Tatsächlich bin ich wirklich zu jung für die Wechseljahre, und Citalopram habe ich auch noch nie probiert. Aber vielleicht kommt das ja noch!)
    Dass Mama grundsätzlich plötzlich nicht mehr so viele Tabletten schlucken will, liegt fraglos an der Ömi: Auch das hat die ihr eingeredet. »Immer diese Tabletten!«, stöhnt Ömi regelmäßig. »Tabletten sind nur gut, wenn man sie nicht nimmt!« Deswegen macht Mama sich plötzlich Sorgen, wenn sie welche schluckt.
    Man muss sie anrufen und im Befehlston sagen: »Und jetzt musst du das nächste Voltaren gegen deine Rückenschmerzen nehmen!« Dann nimmt sie das nächste Voltaren. Drei Stunden später ruft sie an und fragt, ob sie in noch mal drei Stunden wieder ein Voltaren nehmen soll.
    »Ja, Mama, dreimal am Tag. Ich habe es dir doch auf einen Zettel geschrieben!«
    »Also noch ein Voltaren?«, fragt Mama.
    »Ja, noch ein Voltaren!«
    »Am Abend, oder?«
    »Ja, genau!« (tiefes Durchatmen), »am Abend, wie gesagt!!!« Jetzt bloß nicht ausflippen, sie kann ja nichts dafür!
    Mittlerweile schreibe ich eigentlich alles auf Zettel. Aber sie ruft mich dennoch an und fragt, ob sie die Zettel auch wirklich befolgen soll. Die Damen von der Medikamentenkontrolle sind in dieser Hinsicht keine Hilfe: Sie eignen sich nur für DauerMedikationen, nicht für

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