Lipstick
grandiose Vorstellung! Während Greta tattrig zu Hause hockte, ihren Micha am Grab beweinte und darauf hoffte, daß das längst erwachsene Mäxchen mal vorbeischaute – was es natürlich nicht tat –, frönte ich sexuellen Ausschweifungen der Sonderklasse,denn seit Jan mit gewissen Altersschwierigkeiten zu kämpfen hatte, waren wir natürlich bestens mit Hilfsmitteln aller Art ausgestattet, wir besuchten regelmäßig Senioren-Sexshops, wo wir allen erdenklichen, speziell für die dritte Jugend entworfenen Schnickschnack erstanden. Außerdem – und das war der entscheidende Vorteil unseres späten Sinnentaumels – brauchten wir keine Kondome mehr zu benutzen: Schwanger wurde ich vermutlich nicht mehr, und falls Jan mich wegen eines eventuellen Seitensprungs mit Aids infizierte, würde die Krankheit frühestens ausbrechen, wenn ich neunzig bis hundert war. Uff …
Jans Abschiedskuß war wie ein Schokokeks, bei dem man aus Versehen den Schokoladenüberzug vergessen hatte: ziemlich traurig.
»Ich rufe dich an.«
»Ja.« Einer meiner üblichen Tränenklöße hockte in meinem Hals, und wenn ich nicht aufpaßte, würde er sich gleich entladen. Ich war doch nicht ganz bei Trost, mich in einen wie Jan zu verlieben. Komplett gestört! Ein Fall für die Couch!
Als ich ins Taxi stieg, heulte ich dann tatsächlich los.
Oder war es gerade die mangelnde Aussicht auf Erfolg, die mich in diese Beziehung trieb? Schnell schickte ich den Gedanken gen Himmel, wo plötzlich weiße Schönwetterwölkchen in einem riesigen blauen See umherzogen. Das war doch immerhin etwas.
Tom hatte wieder eine Freundin.
Sollte er doch. Mir war es zu anstrengend, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, zumal unsere Beziehung nach und nach sogar unter den normalen Status einer Wohngemeinschaft sank. Es gab keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr, keine Fernsehabende, nichts, und wenn wir auch noch eine Haushaltskasse hatten und für den anderen mit einkauften, waren die Lebensmittel im Kühlschrank doch streng getrennt. Für mich der Gorgonzola und andere Käsesorten, für Tom die Schlimme-Augen-Wurst, die er euphemistisch mit dem Wort Mortadella umschrieb.
Im übrigen war der Alltag nervenaufreibend genug. Ich hatte meine letzten Synchronkassetten endlich abgegeben, und die Outlinesder neuen Serie, die inzwischen durch meinen Briefkastenschlitz geflattert waren, stürzten mich in tiefste Verwirrung: Statt mit Amandas, Jakys und Wittgensteins samt ihren Töchtern, die den falschen Mann heiraten wollten, hatte ich es plötzlich mit Goethes, Hufknechts und Meissners zu tun, und alle tanzten sie quer, nahmen entweder Drogen oder waren auf den Hausmeister, Gärtner oder sonst wen scharf, was natürlich zu einigen Verwicklungen führte, und noch bevor ich die erste Zeile in den Computer hackte, überschrieb ich die Folge 373 mit »Irrungen und Wirrungen«. Die wichtigste Erkenntnis meiner bisherigen Seifenopernkarriere war nämlich, daß dieser Titel mehr oder weniger auf jede Folge paßte.
Ich organisierte meine Tage folgendermaßen: Gegen acht aufstehen, duschen, schnell zum Bäcker und zum Zeitungskiosk huschen, eine Viertelstunde später setzte ich mich mit einer großen und durchaus beruhigenden Schale Milchkaffee in die Küche, blätterte kurz die »taz« und das »Abendblatt« durch und entwarf dann, während ich noch mein Croissant zerpflückte, das dramaturgische Konzept der heute zu schreibenden Szenen. Danach ging’s an den Computer, ein bis zwei Stunden schreiben, Greta anrufen, ein bißchen über dies und das plaudern und sich für den frühen Abend verabreden. Dann schrieb ich je nach Laune weiter oder überarbeitete schon getextete Dialoge, nicht ohne immer wieder das Telefon anzustarren, als sei es der heilige Gral. Natürlich klingelte es hin und wieder, und jedesmal zuckte ich zusammen, aber meistens waren nur Dummköpfe dran: Versicherungsfritzen, Tom, der in irgendeiner Telefonzelle stand und sich nach meinem Befinden erkundigen wollte, Toms Kumpel Marjan, der dessen schnellen Weiberwechsel wieder mal nicht mitgekriegt hatte, ebenso sein Exkommilitone Stefan, und dann war Jan doch irgendwann dran. Ich wußte es bereits in dem Moment, als ich den Hörer zur Hand nahm. Gleich wirst du seine Stimme am Ohr haben, dachte ich. Ich versuchte, sie mir vorzustellen, was seltsamerweise nicht gelang, und doch erkannte ich ihren Klang sofort. Jan sprach warm und weich und beinahe flüsternd.
»Wo bist du?«
»Zu Hause. Wie geht es
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