Lisa Kleypas
Collins.
Noch nie
hatte er erlebt, dass Holly eine Frau so nah an sich heranließ. Nicht bei
Victorias alten Freundinnen, nicht bei ihrer Lehrerin, nicht einmal bei Shelby,
mit der sie recht viel Zeit verbrachte. Wer war diese Frau? Was brachte eine
alleinstehende junge Frau von etwa Mitte zwanzig dazu, freiwillig auf eine
Insel zu ziehen, wo mehr als die Hälfte der Bewohner älter als fünfundvierzig
waren? Und warum, um Gottes willen, eröffnete sie hier einen Spielzeugladen?
Er wollte
sie wiedersehen. Er wollte alles über sie erfahren.
Die tief
stehende Sonne tauchte den späten Nachmittag in ein honiggelbes Licht und ließ
das Wasser in den Gezeitentümpeln und flachen Prielen der False Bay wie flüssiges
Gold glitzern.
Das Biotop
bestand aus etwa zweihundert Morgen Sandwatt. Bei Flut sah es aus wie eine ganz
normale Meeresbucht, aber bei Ebbe war es nahezu vollständig trocken. Möwen,
Reiher und Seeadler bedienten sich am Buffet maritimer Leckerbissen im Watt:
Strandkrabben, Würmer, Garnelen und Muscheln. Man konnte mindestens eine halbe
Meile weit durch den schweren Schlick Richtung offenes Meer wandern, bevor man
wegen der nahenden Flut wieder umkehren musste.
Der
Kleinlaster bog auf die private Schotterpiste ein, die nach Rainshadow
Vineyard führte, und näherte sich dem Haus. Von außen sah es immer noch
verwittert und baufällig aus, aber innen gingen die Sanierungsarbeiten gut
voran. Als Allererstes hatte Mark das Schlafzimmer für Holly in Ordnung
gebracht, die Wände himmelblau und die Decke cremeweiß gestrichen. Dann hatte
er die Möbel aus ihrem alten Zimmer hineingestellt und das Schmetterlings-Mobile
über ihrem Bett aufgehängt.
Die größte
Herausforderung bisher war der Einbau eines anständigen Bades für Holly
gewesen. Dafür hatten Mark und Sam Wände herausgeschlagen, neue Wasser- und
Abwasserleitungen verlegt, den Fußboden begradigt und eine neue Wanne, eine
Toilette und einen Marmor-Waschtisch eingebaut. Holly durfte sich die Farbe
selbst aussuchen, als die neuen Wände standen und verputzt waren. Natürlich
hatte sie sich für Rosa entschieden.
»Immerhin
passt es zum Baustil«, meinte Mark und erinnerte Sam daran, dass die
Musterfarben alle aus einer Palette stammten, die für den viktorianischen Stil
stand.
»Es ist
grässlich mädchenhaft«, widersprach Sam. »Jedes Mal, wenn ich in diesem
rosa Badezimmer dusche, habe ich anschließend das dringende Bedürfnis, irgendwas
ganz Männliches zu machen.«
»Was auch
immer du damit meinst, tu es bitte draußen, damit wir dir nicht dabei zusehen
müssen.«
Als
Nächstes nahmen sie sich die Küche vor. Mark stellte einen brandneuen Herd mit
Backofen und sechs Kochplatten sowie einen neuen Kühlschrank auf. Dann
entfernte er mithilfe einer Heißluftpistole und eines Schwingschleifers, den er
sich von Alex geliehen hatte, mindestens sechs Schichten Farbe von den Fenster- und Türrahmen.
Alex hatte
sich als unerwartet großzügig erwiesen und gern Werkzeuge, Material und guten
Rat zur Verfügung gestellt. Ja, er war sogar dazu übergegangen, mindestens
einmal die Woche vorbeizuschauen, möglicherweise, weil er sich mit
Renovierungs-, Sanierungs- und Baumaßnahmen bestens auskannte und seine Hilfe
so offensichtlich gebraucht wurde. Unter seinen Händen verwandelten sich
nutzlose Holzreste in raffinierte und wunderbare Dinge.
Bei seinem
zweiten Besuch baute er in Hollys Schlafzimmerschrank ein paar Regalfächer
ein, in denen sie ihre Schuhe unterbringen konnte. Zur Freude des Mädchens
saßen einige der Regalböden auf verdeckten Scharnieren, sodass sie
herausgeklappt werden konnten. Dahinter verbargen sich Geheimfächer.
Bei anderer
Gelegenheit brachte Alex seinen Bautrupp mit. Mark und Sam mussten nämlich
feststellen, dass einige der Dielen der Vorderveranda sich wölbten und schon
zerbröselten, wenn man sie nur scharf ansah. Alex und seine Mannschaft
brauchten einen ganzen Tag, um die maroden Dielen durch neue zu ersetzen,
beschädigte Tragbalken zu reparieren und neue Regenrinnen anzubringen.
Das hätten
Mark und Sam nicht allein bewältigen können, und sie wussten die Hilfe ihres
Bruders ehrlich zu schätzen. Andererseits kannten sie Alex nur zu gut ...
»Was
glaubst du, was er will?«, fragte Sam.
»Dass seine
Nichte nicht unter Trümmern begraben wird, wenn das Haus zusammenbricht?«
»Nein. Das
würde voraussetzen, dass er über menschliche Züge verfügt, und wir waren uns
doch einig, dass wir ihm so etwas niemals
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