Little Bee
und ich merkte, dass womöglich nur Charlie mich daran hinderte, in das Loch zu fallen. Ich hielt ihn fester. Charlie legte den Mund an mein Ohr und flüsterte: »Wo ist mein Papa jetzt genau?«
»Dein Papa ist auf den himmlischen Hügeln, Charlie«, flüsterte ich zurück. »Die sind um diese Jahreszeit sehr beliebt. Ich glaube, er ist da sehr glücklich.«
»Hm. Kommt mein Papa bald zurück?«
»Nein, Charlie. Aus dem Himmel kommen Leute nicht zurück. Darüber haben wir doch gesprochen.«
Charlie schürzte die Lippen. »Mama«, sagte er wieder, »warum haben die die Kiste da unten reingestellt?«
»Damit sie sicher ist, nehme ich an.«
»Oh. Holen sie die später wieder ab?«
»Nein, Charlie, ich glaube nicht.«
Charlie blinzelte. Er verzog unter seiner Maske das Gesicht, weil er so angestrengt nachdachte. »Wo ist der Himmel, Mama?«
»Bitte, Charlie, nicht jetzt.«
»Was ist in der Kiste?«
»Lass uns später darüber reden, Schatz, in Ordnung? Mama ist ein bisschen schwindlig.«
Charlie starrte mich an. »Ist mein Papa in der Kiste?«
»Dein Papa ist im Himmel, Charlie.«
»Ist die Kiste der Himmel?«, fragte Charlie laut.
Alle schauten uns an. Ich konnte nicht sprechen. Mein Sohn starrte in das Loch. Dann blickte er zutiefst entsetzt zu mir auf.
»Mama! Hol ihn raus! Hol meinen Papa aus dem Himmel !«
Ich klammerte mich an seine Schultern. »Oh, Charlie, bitte, du verstehst das nicht!«
» Hol ihn raus! Hol ihn raus!«
Mein Sohn wand sich in meinem Griff und riss sich los. Es ging sehr schnell. Er stand ganz dicht am Rand des Grabes. Er sah mich an, dann machte er noch einen winzigen Schritt nach vorn, doch das Kunstgras ragte über den Rand der Grube und gab unter seinen Füßen nach, und er fiel mit flatterndem Umhang ins Grab. Mit einem dumpfen Laut landete er auf Andrews Sarg. In der Trauergesellschaft stieß jemand einen einzigen durchdringenden Schrei aus. Ich glaube, es war das erste Geräusch seit Andrews Tod, das die Lautlosigkeit durchdrang.
In meinem Kopf ging der Schrei immer weiter. Mir war übel, und der Horizont schwankte wie verrückt. Noch immer auf den Knien beugte ich mich über die Grube. Tief unten im Schatten hämmerte mein Sohn auf den Sarg und kreischte: Papa, Papa, komm RAUS! Er klammerte sich an den Sargdeckel, stemmte seine Batman-Schuhe gegen die Wand des Grabes und versuchte mit aller Kraft, den zugeschraubten Deckel aufzuschieben. Ich streckte die Arme in das Loch hinunter. Ich flehte Charlie an, mir die Hand zu geben, damit ich ihn hochziehen könnte. Ich glaube, er hörte mich gar nicht.
Zuerst bewegte sich mein Sohn mit atemlosem Selbstvertrauen. Immerhin war Batman das ganze Frühjahr unbesiegt geblieben. Er hatte den Pinguin, den Papageientaucher und Mr. Freeze überwältigt. Für meinen Sohn war es einfach undenkbar, dass er diese neue Herausforderung nicht meistern könnte. Er kreischte vor Zorn und Wut. Er wollte nicht aufgeben. Wenn ich den exakten Zeitpunkt benennen sollte, an dem mir das Herz unwiderruflich brach, dann war es der Augenblick, in dem sich Müdigkeit und Zweifel in die kleinen Muskeln meines Sohnes stahlen, nachdem seine Finger zum zehnten Mal von dem hellen Eichendeckel abgerutscht waren.
Die Trauergemeinde stand um das Grab gedrängt, wie gelähmt von dem entsetzlichen Vorfall, der ersten Erkenntnis des Todes, die schlimmer war als der Tod selbst. Ich wollte zu Charlie, wurde aber zurückgehalten. Ich versuchte mich loszureißen und schaute in die schreckensstarren Gesichter und dachte nur, warum tut denn niemand etwas ?
Doch es ist schwer, sehr schwer, den ersten Schritt zu machen.
Schließlich war es Little Bee, die ins Grab kletterte, meinen Sohn ergriff und ihn den helfenden Händen hinaufreichte. Charlie trat und biss und kämpfte wie wild in seinem schmutzigen Kostüm. Er wollte wieder runter. Und als man ihr herausgeholfen hatte, war es wieder Little Bee, die ihn umarmte und zurückhielt, als er Nein, nein, nein, nein, nein schrie, während die Trauernden nacheinander auf den schmalen Kunstgrasstreifen traten und ihre Hand voll Lehm hinunterwarfen. Die Schreie meines Sohnes schienen grausam lange zu dauern. Ich weiß noch, dass ich mich fragte, ob mein Verstand von dem Geräusch zerbrechen würde, so wie ein Sopran ein Weinglas zerbrechen kann. In der Tat rief mich einige Tage später ein früherer Kollege von Andrew an, der als Kriegsberichterstatter im Irak und in Darfur gewesen war, und gab mir den Namen seines
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