Little Bee
Therapeuten durch, der Menschen mit PTBS behandelte. Das ist nett von dir, sagte ich, aber ich war nicht im Krieg.
Als das Schreien vorbei war, nahm ich Charlie auf den Arm, und er legte den Kopf auf meine Schulter. Er war erschöpft. Durch die Sehschlitze der Maske konnte ich erkennen, wie ihm die Augen zufielen. Die Trauergäste bewegten sich in einer langsamen Reihe zum Parkplatz. Bunte Regenschirme erblühten über der dunklen Kleidung. Es begann zu regnen.
Little Bee blieb bei mir. Wir standen am Grab und sahen einander an. »Ich danke dir«, sagte ich.
»Nichts zu danken«, sagte Little Bee. »Das hätte doch jeder getan.«
»Es hat aber niemand sonst getan.«
Little Bee zuckte mit den Schultern. »Es ist leichter, wenn man von außen kommt.«
Ich zitterte. Es regnete stärker.
»Es wird niemals aufhören«, sagte ich. »Oder, Little Bee?«
»So lange der Mond auch verschwindet, irgendwann muss er wieder scheinen. Das sagten wir bei mir im Dorf.«
» Auf nassen April ein trockner Juni folgen will. Das sagten wir in meinem.«
Wir versuchten, einander anzulächeln.
Ich habe meinen Lehmklumpen nicht ins Grab geworfen. Irgendwie konnte ich ihn auch nicht weglegen. Als ich zwei Stunden später einen Moment lang allein am Küchentisch saß, merkte ich, dass ich ihn noch immer umklammert hielt. Ich ließ ihn auf dem Tischtuch liegen, einen kleinen, beigefarbenen Klumpen auf der sauberen blauen Baumwolle. Als ich ein paar Minuten später wiederkam, hatte ihn jemand entfernt.
Einige Tage danach merkte der Nachrufredakteur der Times an, es habe herzzerreißende Szenen beim Begräbnis ihres früheren Kolumnisten gegeben. Andrews Chefredakteur schickte mir den Ausschnitt in einem schweren, cremefarbenen Umschlag, dem eine blütenweiße Begleitkarte beigefügt war.
*
Eines der Dinge, die ich den Mädchen zu Hause erklären müsste, wenn ich ihnen diese Geschichte erzählen würde, ist das Wort »Horror«. Für die Leute aus meinem Dorf bedeutet es etwas anderes.
In eurem Land könnt ihr, wenn ihr euch noch nicht genügend fürchtet, einen Horrorfilm anschauen. Danach könnt ihr aus dem Kino in die Nacht hinausgehen und für eine kleine Weile überall Horror sehen. Vielleicht lauern zu Hause Mörder auf euch. Das glaubt ihr, weil in eurem Haus ein Licht brennt, das ihr ganz bestimmt nicht angelassen habt. Und wenn ihr euch vor dem Spiegel abschminkt, entdeckt ihr einen seltsamen Blick in euren Augen. Das seid nicht ihr. Eine Stunde lang fühlt ihr euch verfolgt und traut niemandem, und dann vergeht das Gefühl. In eurem Land ist Horror etwas, von dem man eine Dosis nimmt, um sich daran zu erinnern, dass man nicht daran leidet.
Für mich und die Mädchen aus meinem Dorf ist der Horror eine Krankheit, und sie hat uns alle erfasst. Es ist keine Krankheit, die man selbst heilen kann, indem man aufsteht und den roten Kinositz hinter sich zurückklappen lässt. Das wäre ein toller Trick. Wenn ich das könnte, glaubt mir, würde ich schon im Foyer stehen. Ich würde mit dem Jungen hinter der Theke lachen und britische Pfundmünzen gegen heißes, buttriges Popcorn tauschen und sagen, Pub, Gott sei Dank, das ist vorbei, das war der schreckliebste Film, den ich je gesehen habe, ich glaube, nächstes Mal schau ich mir eine Komödie an oder einen Liebesfilm mit romantischen Küssen. Doch den Film im eigenen Gedächtnis kann man nicht so einfach hinter sich lassen. Wohin man auch geht, er wird überall gespielt. Wenn ich sage, ich bin ein Flüchtling, heißt das auch, dass es keine Zuflucht gibt.
Manchmal frage ich mich, wie viele es gibt, die so sind wie ich. Tausende, denke ich, die gerade jetzt auf den Ozeanen dahintreiben. Zwischen unserer Welt und eurer. Wenn wir keine Schmuggler bezahlen können, damit sie uns mitnehmen, verstecken wir uns auf Frachtschiffen. Im Dunkeln, in Containern. Wir atmen leise in der Dunkelheit, hungrig, hören die seltsamen rumpelnden Geräusche der Schiffe, riechen Diesel und Farbe, horchen auf das Wummern der Motoren. Nachts sind wir hellwach, hören den Gesang der Wale, der aus der Tiefe des Meeres emporsteigt und das Schiff vibrieren lässt. Wir alle flüstern, beten, denken. Und woran denken wir? An Sicherheit, an Seelenfrieden. An all die imaginären Länder, die jetzt im Kinofoyer bedient werden.
Ich versteckte mich auf einem großen, stählernen Schiff, doch der Horror hatte sich in mir versteckt. Als ich mein Heimatland verließ, dachte ich, ich sei entkommen, aber auf dem
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