Little Bee
dem Zeitungsfoto. Sie war eine Prostituierte, oder? Eine Nachtjägerin? Hat sie vor Scham auf den Boden geschaut?
- Nein, sie hat nicht vor Scham auf den Boden geschaut. Sie schaute genau in die Kamera und lächelte.
- Was, in der Zeitung?
- Ja.
- Dann muss man sich in Großbritannien also nicht schämen, wenn man seine Titus in der Zeitung zeigt?
- Nein, muss man nicht. Die Jungs mögen es, mit Schämen hat das nichts zu tun. Sonst würden die Oben-ohne-Mädchen nicht so lächeln, versteht ihr?
- Also zeigen alle Mädchen da drüben sie so her? Sie laufen mit hüpfenden Titus herum ? In der Kirche und im Laden und auf der Straße?
- Nein, nur in der Zeitung.
- Warum zeigen nicht alle ihre Brüste, wenn es den Männern gefällt und man sich nicht schämen muss?
- Das weiß ich nicht.
- Du hast doch mehr als zwei Jahre dort gelebt, Miss Weitgereist. Wieso weißt du das nicht?
- So ist es eben da drüben. Als ich dort lebte, war ich oft so durcheinander. Manchmal denke ich, die Briten können solche Fragen selbst nicht beantworten.
- Wahl
So würde es gehen, ständig müsste ich mich unterbrechen und den Mädchen zu Hause jede Kleinigkeit erklären. Ich müsste ihnen erklären, was Linoleum und Bleichmittel und Softporno und die gestaltwandlerische Magie der britischen Pfundmünze ist, als wären diese alltäglichen Dinge wunderbare Mysterien. Und meine Geschichte würde rasch im großen Ozean der Wunder untergehen, weil es aussähe, als wäre euer Land ein verzaubertes Wunderreich und meine eigene Geschichte in Wirklichkeit ganz klein und ohne Magie. Mit euch ist es viel leichter, weil ich zu euch einfach sagen kann: An dem Morgen, an dem sie uns freiließen, starrte der diensthabende Beamte im Abschiebegefängnis das Foto eines Oben-ohne-Mädchens in der Zeitung an. Und ihr versteht sofort, was ich meine. Ich habe zwei Jahre damit verbracht, das Englisch der Königin zu lernen, damit wir ohne Unterbrechungen miteinander reden können.
Der Wachbeamte, der das Oben-ohne-Foto in der Zeitung anschaute, war klein und sein Haar blass, wie die Champignonsuppe aus der Dose, die man uns dienstags vorsetzte. Er hatte einen kleinen Bauch, und seine Handgelenke waren dünn und weiß wie mit Plastik umhüllte Stromkabel. Seine Uniform war größer als er selbst. Die Schultern seiner Jacke bildeten links und rechts von seinem Kopf zwei Buckel, als hätte er kleine Tiere darunter versteckt. Ich stellte mir vor, wie die Geschöpfe ins Licht blinzelten, wenn er die Jacke abends auszog. Ich dachte, ja, Sir, wenn ich Ihre Frau wäre, würde ich auch den Büstenhalter anbehalten, danke vielmals.
Und dann dachte ich, warum sehen Sie das Mädchen in der Zeitung an, Mister, und nicht uns hier in der Schlange vor dem Telefon? Angenommen, wir würden einfach weglaufen? Aber dann fiel mir ein, dass sie uns ja freiließen. Nach so langer Zeit war es schwer zu begreifen. Zwei Jahre hatte ich im Abschiebegefängnis gelebt. Ich war vierzehn, als ich in euer Land kam, hatte aber keine Papiere, um es zu beweisen. Also steckten sie mich ins selbe Abschiebegefängnis wie die Erwachsenen. Das Problem war, dass Männer und Frauen dort gemeinsam eingesperrt waren. Nachts kamen die Männer in einen anderen Flügel des Abschiebegefängnisses. Wenn die Sonne unterging, wurden sie wie Wölfe eingesperrt, doch tagsüber bewegten sich die Männer mitten unter uns und aßen das gleiche Essen wie wir. Ich fand, dass sie immer hungrig aussahen. Dass sie mich mit gierigen Augen betrachteten. Als mir die älteren Mädchen zuflüsterten, um zu überleben, musst du gut aussehen oder gut sprechen, entschied ich, dass Sprechen sicherer wäre.
Ich machte mich selbst unattraktiv. Ich wusch mich nicht mehr und ließ meine Haut fettig werden. Unter der Kleidung wickelte ich mir einen Stoffstreifen um die Brust, damit meine Brüste klein und flach aussahen. Wenn die Spendenkartons mit gebrauchten Kleidern und Schuhen ankamen, versuchten einige Mädchen, sich hübsch zu machen, doch ich durchwühlte die Kartons nach Sachen, die meine Figur verbargen. Ich trug weite Jeans und ein buntgemustertes Männerhemd und schwere schwarze Stiefel, bei denen die Stahlkappen durch das rissige Leder schimmerten. Ich ging zur Krankenschwester und ließ mir mit einer Arztschere die Haare ganz kurz schneiden. In den zwei Jahren lächelte ich keinem Mann zu oder schaute ihn auch nur an. Solche Angst hatte ich. Nur nachts, wenn sie die Männer eingeschlossen hatten, ging ich in
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