Little Bee
Ich ging die ganze Nacht hindurch, und als es hell wurde, kehrte ich in den Dschungel zurück. Ich fand eine rote Frucht, die ich aß. Ich wusste nicht, wie sie hieß, aber ich hatte Hunger. Sie war bitter, und mir wurde sehr schlecht. Ich hatte große Angst, die Männer würden kommen und mich wiederfinden. Ich vergrub meine Exkremente, um keine Spuren zu hinterlassen. Bei jedem Geräusch dachte ich, die Männer kämen zurück. Ich sagte zu mir, Little Bee, die Männer wollen dir die Flügel ausreißen. So ging es zwei Nächte, und in der letzten Nacht kam ich an einen Hafen. Draußen auf dem Meer blitzten rote und grüne Lichter, und es gab eine lange Ufermauer aus Beton. Ich ging die Mauer entlang. Die Wellen durchnässten mich, aber es waren keine Wachen dort. Am Ende der Mauer lagen an der Landseite zwei Schiffe nebeneinander. Das nähere hatte eine italienische Flagge. Das andere war britisch, also kletterte ich über das italienische Schiff, um hinzugelangen. Ich stieg hinunter in den Frachtraum. Er war leicht zu finden, weil es Schilder auf Englisch gab. Englisch ist nämlich die offizielle Sprache meines Landes, weißt du.«
Da hörte ich auf zu reden und schaute aufs Tischtuch. Sarah kam an meine Seite des Tisches und setzte sich auf den Stuhl neben meinem und umarmte mich lange. Dann saßen wir da und hielten unsere kalten Teetassen fest. Ich legte den Kopf auf Sarahs Schulter. Draußen wurde der Tag ein bisschen heller. Wir sagten nichts. Irgendwann hörte ich Schritte auf der Treppe, und Charlie kam in die Küche. Sarah wischte sich die Augen, holte tief Luft und setzte sich aufrecht hin. Charlie trug sein Batmankostüm, aber ohne die Maske und den Gürtel, an den er seine Bat-Werkzeuge hängte. An diesem Morgen schien er keinen Einsatz zu erwarten. Als er mich sah, blinzelte er. Er war wohl überrascht, dass ich noch da war. Er rieb sich schläfrig die Augen und drückte den Kopf an seine Mutter.
»Innoschlafenzeit«, sagte er.
»Wie bitte, Batman?«, fragte Sarah.
»Ist noch Schlafenszeit. Warum seid ihr wach?«
»Mama und Little Bee sind heute Morgen früh aufgewacht.«
»Mmm?«
»Wir hatten uns viel zu erzählen.«
»Mmm?«
»Also, Batman, verstehst du mich nicht, oder bist du anderer Meinung?«
»Mmm?«
»Verstehe, Liebling, du bist eine kleine Fledermaus mit Sonar. Du sendest diese >Mmms< aus, bis eins davon an etwas Festem abprallt, stimmt's?«
»Mmm?«
Charlie starrte seine Mutter an. Sie erwiderte seinen Blick, wandte sich nach einer Weile ab und lächelte mir zu. Ihre Tränen flossen wieder.
»Charlie hat ungewöhnliche Augen, oder? Wie Ökosysteme in Aspik.«
»Gar nicht wahr«, sagte Charlie.
Sarah lachte. »Liebling, ich meine, dass jeder sehen kann, wie viel hinter ihnen vorgeht.« Sie klopfte leicht an die Seite von Charlies Kopf.
»Hmm«, machte Charlie. »Warum weinst du, Mama?«
Sarah brach zusammen. Es war, als würde alle Kraft aus ihren Knochen strömen. Sie ließ den Kopf auf die Arme sinken und weinte.
»Oh, Charlie«, sagte sie. »Mama weint, weil sie gestern Abend vier Gin Tonic getrunken hat. Mama weint wegen etwas, an das sie lange nicht denken wollte. Es tut mir so leid, Charlie. Mama ist zu erwachsen, um noch sehr viel zu fühlen, und wenn sie was fühlt, ist sie ganz überrascht.«
»Mmm«, machte Charlie.
»Oh, Charlie!«, sagte Sarah.
Sie breitete die Arme aus. Charlie kletterte auf ihren Schoß, und sie umarmten einander. Es war nicht richtig, dass ich dabei war, also ging ich in den Garten und setzte mich neben den Fischteich. Ich dachte lange an meine Schwester.
Später, als die Sonne höher am Himmel stand und der Verkehrslärm auf der Straße zu einem ständigen Grollen geworden war, kam Sarah zu mir in den Garten.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich musste Charlie in den Kindergarten bringen.«
»Schon gut.«
Sie setzte sich neben mich und legte mir die Hand auf die Schulter. »Wie fühlst du dich ?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Okay«, sagte ich.
Sarah lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Ich weiß es auch nicht.«
Wir saßen da und beobachteten eine Katze, die sich am anderen Ende des Gartens im Gras rollte, mitten in einem hellen Fleckchen Sonnenschein.
»Die Katze sieht glücklich aus«, sagte ich.
»Mmm«, machte Sarah. »Sie gehört unseren Nachbarn.«
Ich nickte. Sarah holte tief Luft.
»Möchtest du eine Weile hierbleiben?«
»Hier? Bei dir?«
»Ja. Bei mir und
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