Little Bee
Charlie.«
Ich rieb mir die Augen. »Ich weiß nicht. Ich bin illegal hier, Sarah. Die Männer können jede Minute kommen und mich zurück in mein Land schicken.«
»Weshalb haben sie dich denn aus dem Abschiebegefängnis entlassen, wenn du nicht bleiben darfst?«
»Sie haben einen Fehler gemacht. Wenn du gut aussiehst oder gut reden kannst, machen sie manchmal Fehler für dich.«
»Aber du bist jetzt frei. Sie können dich nicht einfach holen. Das hier ist nicht Nazideutschland. Es muss ein Verfahren geben, das wir beantragen können. Eine Art Berufung. Ich kann ihnen erzählen, was dir dort geschehen ist. Was geschehen wird, wenn du zurückkehrst.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie werden dir sagen, dass Nigeria ein sicheres Land ist. Menschen wie mich können sie einfach holen und zum Flughafen bringen.«
»Bee, ich bin mir sicher, uns fällt etwas ein. Ich gebe eine Zeitschrift heraus. Ich kenne viele Leute. Wir könnten richtig Ärger machen.«
Ich schaute zu Boden. Sarah lächelte. Sie legte ihre Hand auf meine.
»Du bist noch jung, Bee. Du weißt noch nicht, wie die Welt funktioniert. Du hast nur Leid gesehen, also glaubst du, du würdest nichts anderes als Leid erleben.«
»Du hast auch Leid erlebt, Sarah. Du irrst dich, wenn du glaubst, das sei ungewöhnlich. Ich sage dir, Leid ist wie der Ozean. Es bedeckt zwei Drittel der Erde.«
Sarah zuckte zusammen, als wäre ihr etwas ins Gesicht geflogen.
»Was ist los?«, fragte ich.
Sie hielt den Kopf in den Händen. »Gar nichts. Es ist albern.«
Mir fiel nichts ein, was ich sagen konnte. Ich schaute mich im Garten nach etwas um, mit dem ich mich töten könnte, falls die Männer plötzlich kämen. Am Ende stand ein Schuppen, an dem eine Gartengabel mit drei großen Zinken lehnte. Ein prima Gerät, dachte ich. Wenn die Männer plötzlich kommen, renne ich mit dieser Gabel los und stürze mich auf die scharfen, schimmernden Spitzen.
Ich grub die Nägel in die Erde des Blumenbeetes neben uns und drückte die klebrige Erde zwischen meine Finger.
»Was denkst du gerade, Bee?«
»Mmm?«
»Woran denkst du gerade?«
»Oh. Cassava.«
»Wieso Cassava?«
»In meinem Dorf haben wir Cassava angebaut. Wir haben sie gepflanzt und gewässert und wenn sie hoch stand - so hoch -, haben wir die Blätter gepflückt, so dass das ganze Wachstum in die Wurzeln ging, und wenn sie reif waren, haben wir sie ausgegraben und geschält und gerieben und gepresst und vergoren und gebraten und mit Wasser vermischt und Paste daraus gemacht und gegessen und gegessen und gegessen und gegessen. Ich habe nachts davon geträumt.«
»Was habt ihr sonst noch gemacht?«
»Manchmal haben wir auf einer Schaukel gespielt.«
Sarah lächelte. Sie schaute in den Garten. »Cassava wirst du hier nicht finden. Dafür gibt es tonnenweise Clematis. Eine Menge Kamelien.«
Ich nickte. »In dieser Erde würde auch keine Cassava wachsen.«
Sarah lächelte, aber sie weinte dabei. Ich hielt ihre Hand. Tränen liefen ihr übers Gesicht.
»Oh, Bee, ich fühle mich so furchtbar schuldig.«
»Es ist nicht deine Schuld, Sarah. Ich habe meine Eltern und meine Schwester verloren. Du hast deinen Mann verloren. Wir beide haben etwas verloren.«
»Ich habe Andrew nicht verloren, Bee. Ich habe ihn zerstört. Ich habe ihn mit einem anderen Mann betrogen. Das ist der einzige Grund, warum wir überhaupt in diesem verdammten Nigeria gelandet sind. Wir dachten, wir hätten Urlaub nötig. Um unsere Beziehung zu kitten. Verstehst du?«
Ich zuckte mit den Schultern. Sarah seufzte.
»Ich nehme an, du wirst mir sagen, dass du noch nie Urlaub gemacht hast.«
Ich schaute auf meine Hände. »Ich habe auch noch nie einen Mann gehabt.«
Sarah blinzelte. »Ja. Natürlich. Manchmal vergesse ich, wie jung du bist.«
Wir saßen eine Minute still da. Dann klingelte Sarahs Handy. Sie redete. Als der Anruf beendet war, sah sie sehr müde aus.
»Das war der Kindergarten. Ich soll Charlie abholen. Er hat die anderen Kinder geschlagen. Sie sagen, er sei ausgerastet.« Sie biss sich auf die Lippe. »Das hat er noch nie gemacht.«
Sie griff wieder zum Telefon und drückte einige Knöpfe. Während sie es ans Ohr hielt, schaute sie über meine Schulter in den Garten. Sie kaute noch immer auf ihrer Lippe. Nach ein paar Sekunden hörte man ein anderes Telefon klingeln. Es war ein leises, fernes Geräusch, das aus dem Inneren des Hauses drang. Sarahs Gesicht erstarrte. Dann nahm sie das Telefon langsam vom Ohr und drückte eine
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