Little Bee
hatten.«
»Bis du wieder klar denken konntest?«
»Bevor ich überhaupt denken konnte. Zuerst bin ich nur gelaufen, gelaufen, gelaufen - weg von da, wo es geschehen war. Dann kam das Abschiebegefängnis. Das war sehr schlimm. Dort kann man nicht klar denken. Man hat kein Verbrechen begangen, also denkt man nur, wann lassen sie mich raus? Aber sie sagen dir nichts. Nach einem Monat, nach sechs Monaten, fängst du an zu denken, vielleicht werde ich hier drinnen alt. Vielleicht werde ich hier sterben. Vielleicht bin ich schon tot. Im ersten Jahr konnte ich nur daran denken, mich umzubringen. Wenn alle anderen tot sind, denkst du manchmal, es wäre einfacher, zu ihnen zu gehen. Aber du musst nach vorn blicken. Nach vorn, nach vorn, sagen sie dir. Als wärst du störrisch, wie eine Ziege, die auf ihren Blumen herumkaut. Nach vorn, nach vorn. Um fünf Uhr nachmittags sagen sie dir, du sollst nach vorn blicken, und um sechs Uhr sperren sie dich wieder in deine Zelle.«
»Hast du dort überhaupt keine Hilfe bekommen?«
Ich seufzte. »Sie haben schon versucht, uns zu helfen. Es gab gute Menschen dort. Psychiater, Freiwillige. Aber sie konnten da drinnen nicht viel für uns tun. Eine Psychiaterin sagte zu mir, Psychiatrie hier drin ist so, als würde man während eines Flugzeugabsturzes eine Mahlzeit servieren. Um dir wirklich zu helfen, müsste ich dir einen Fallschirm statt eines Käsesandwiches geben. Damit dein Geist heilen kann, musst du erst mal frei sein.«
Sarah drückte das Taschentuch an ihre Augenwinkel. »Ich bin mir nicht sicher, ob es hier draußen einfacher ist, Bee.«
»Aber ich werde dir helfen.«
Sarah lächelte. »Du bist sechzehn. Du bist ein Flüchtling. Du bist eine Waise, Herrgott noch mal. Ich müsste dir helfen.«
Ich drückte ihre Schulter, damit sie aufhörte. Dann ergriff ich ihre linke Hand und hielt sie vor ihr Gesicht. Charlie stand da und schaute uns mit großen Augen an.
»Sieh doch, Sarah. Du hast mir schon geholfen. Du hast dir den Finger für mich abgeschnitten. Du hast mir das Leben gerettet.«
»Ich hätte mehr tun sollen. Ich hätte auch deine Schwester retten müssen.«
»Wie denn?«
»Ich hätte mir etwas einfallen lassen müssen.« Ich schüttelte den Kopf. »Du hast alles getan, was du konntest, Sarah.«
»Aber wir hätten nie in diese Situation kommen dürfen, Bee. Verstehst du das nicht? Wir hatten kein Recht, an diesem Ort Urlaub zu machen.«
»Und wenn ihr nicht dort gewesen wärt, Sarah? Wenn du und Andrew nicht dort gewesen wärt, wären Nkiruka und ich beide tot.« Ich wandte mich an Charlie. »Deine Mama hat mir das Leben gerettet, weißt du. Sie hat mich vor den Bösen gerettet.«
Charlie schaute seine Mutter an. »Wie Batman?«
Sarah lächelte, wie ich es jetzt schon kannte, mit Tränen in den Augen. »Wie Bat-Mama.«
»Hast du darum den einen Finger nicht?«
»Ja, Liebling.«
»Haben die Bösen ihn weggenommen? Der Pinguin?«
»Nein, Liebling.«
»War es der Papageientaucher?«
Sarah lachte. »Ja, Liebling, es war dieser schreckliche Papageientaucher.«
Charlie grinste. »Fieser, fieser Papageientaucher«, sagte er und rannte vor uns über den Gehweg, wobei er die Bösen mit einer für mich unsichtbaren Waffe erschoss. Sarah drehte sich zu mir. »Gott segne dich«, sagte sie.
Ich hielt ihren Arm fest und legte ihre linke Handfläche auf meinen linken Handrücken. Ich ordnete meine Finger unter ihren an, so dass man von meinen nur noch den sah, der an ihrer Hand fehlte. Ich sah, wie es gehen könnte. Ich sah, wie wir weiterleben könnten. Ich wusste, es war verrückt, so zu denken, aber mein Herz hämmerte, hämmerte, hämmerte.
»Ich möchte dir helfen«, sagte ich. »Wenn du möchtest, dass ich bleibe, dann wird es so zwischen uns sein. Vielleicht kann ich nur einen Monat bleiben, vielleicht auch nur eine Woche. Eines Tages werden die Männer kommen. Doch solange ich hier bin, werde ich wie deine Tochter sein. Ich werde dich lieben, als wärst du meine Mutter, und ich werde Charlie lieben, als wäre er mein Bruder.«
Sarah starrte mich an. »Mein Gott«, sagte sie.
»Was ist los?«
»Na ja, auf dem Heimweg vom Kindergarten spreche ich sonst mit den anderen Müttern über Töpfchentraining und Kuchenbacken und so.«
Ich ließ Sarahs Hand los und schaute zu Boden.
»Oh, Bee, entschuldige. Das kommt ziemlich plötzlich und ist ziemlich ernst, das ist alles. Ich bin so durcheinander. Ich brauche noch ein bisschen Zeit zum Nachdenken.«
Ich
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