Little Bee
schaute Sarah wieder an. In ihren Augen las ich, dass es für sie eine neue Erfahrung war, nicht sofort zu wissen, was zu tun war. Sie hatte die Augen eines neugeborenen Geschöpfes. Bevor es mit der Welt vertraut geworden ist, empfindet es nur Schrecken. Ich kannte diesen Ausdruck sehr gut. Wenn man so viele Menschen gesehen hat, die durch die Türen des Abschiebegefängnisses geschoben wurden, erkennt man den Blick ganz leicht. Ich wollte diesen Schmerz so schnell wie möglich aus Sarahs Leben vertreiben.
»Es tut mir leid, Sarah. Bitte vergiss es. Ich gehe weg. Die Psychiaterin im Abschiebegefängnis hatte recht, sie konnte nichts für mich tun. Ich bin noch immer verrückt.«
Sarah sagte nichts. Sie hielt nur meinen Arm, und wir gingen hinter Charlie die Straße entlang. Charlie rannte voraus und köpfte die Rosen in den Vorgärten. Er köpfte sie mit Karateschlägen. Sie fielen abrupt und in einer lautlosen Explosion von Blütenblättern zu Boden. Wie meine Geschichte mit Nkiruka, wie meine Geschichte mit Yevette. Meine Füße zertraten die Blütenblätter, und ich begriff, dass meine Geschichte nur aus Enden bestand.
Im Haus saßen wir in der Küche. Wir tranken wieder Tee, und ich fragte mich, ob es das letzte Mal war. Ich schloss die Augen. Mein Dorf, meine Familie, der entschwindende Geschmack. Alles verschwindet und versickert in Sand oder Nebel. Ein guter Trick.
Als ich wieder die Augen öffnete, schaute Sarah mich an.
»Weißt du was, Bee, ich habe über das nachgedacht, was du gesagt hast, dass du hierbleiben könntest. Dass wir einander helfen. Ich glaube, du hast recht. Vielleicht ist jetzt die Zeit für ernste Dinge. Vielleicht sind es ernste Zeiten.«
*
Die ernsten Zeiten begannen an einem grauen, unheilvollen Tag in London. Ehrlich gesagt war mir gar nicht ernst zumute, ganz im Gegenteil. Charlie war fast zwei Jahre alt, und ich tauchte allmählich aus dem introvertierten Larvenstadium der frühen Mutterschaft auf. Ich passte wieder in meine Lieblingsröcke. Ich wollte meine Flügel entfalten.
Ich beschloss, einen Tag an der Front zu verbringen. Ich wollte die Mädels in der Redaktion daran erinnern, dass man auch ganz allein ein Feature schreiben kann. Ich hoffte, dass ich meine Mitarbeiterinnen inspirieren könnte, selber Reportagen zu schreiben und so Geld für Freie einzusparen. Ich hatte ihnen erklärt, im Grunde gehe es nur darum, dass sie ihre ätzenden Bemerkungen in sinnvoller Reihenfolge zu Papier brachten, statt sie mal hier, mal da auf Musterkartons zu kritzeln.
Ich wollte eigentlich nur, dass meine Mitarbeiterinnen glücklich waren. In ihrem Alter war ich gerade mit dem Journalismusstudium fertig und wie berauscht von meinem Job. Ich wollte Korruption brandmarken und für die Wahrheit kämpfen. Für mich war es ein Traum, mir einfach die Übeltäter vorknöpfen zu können und nach dem Wer, Was, Wo, Wann und Warum zu fragen. Als ich nun aber in der Eingangshalle des Innenministeriums in der Marsham Street stand und auf mein Zehn-Uhr-Interview wartete, freute ich mich gar nicht darauf. Mit zwanzig ist man vielleicht neugierig aufs Leben, doch mit dreißig betrachtet man die Leute, die noch eins haben, mit Argwohn. Ich umklammerte meinen nagelneuen Notizblock und das Diktiergerät in der Hoffnung, dass ihre Jugendfrische meine Desillusioniertheit vertreiben könnte.
Ich war wütend auf Andrew. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich sah nicht einmal wie eine Reporterin aus - der Spiralblock war jungfräulich weiß. Während ich wartete, bekritzelte ich ihn mit Anmerkungen zu einem imaginären Interview. Der öffentliche Dienst trottete in abgewetzten Schuhen durch die Eingangshalle des Innenministeriums und balancierte den Morgenkaffee auf Papptabletts. Die Frauen quollen aus Hosenanzügen von Marks & Spencer, Truthahnhälse wabbelten, Armreifen klirrten. Die Männer wirkten schlaff und bläulich im Gesicht, als würden sie von ihren Krawatten halb erwürgt. Alle gingen gebeugt, schlurften oder hatten einen nervösen Tick. Ihre Haltung war die von Wetterfröschen, die sich anschicken, die Erwartungen für ein sonniges langes Wochenende zu dämpfen.
Ich versuchte, mich auf den Artikel zu konzentrieren, den ich schreiben wollte. Ich brauchte etwas Optimistisches; etwas Helles, Positives. Mit anderen Worten, etwas, das ganz und gar anders war als das, was Andrew in seiner Times- Kolumne schrieb. Andrew und ich hatten uns gestritten. Seine Artikel wurden immer düsterer. Er
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