Little Bee
schüttelte den Kopf. »Es geht um mehr, Sarah.«
»Ich will es nicht hören. Ich habe mich für Lawrence entschieden. Ich bin zweiunddreißig, Bee. Wenn ich ein geordnetes Leben für Charlie möchte, muss ich zu meinen Entscheidungen stehen. Ich habe nicht zu Andrew gestanden, und jetzt weiß ich es besser. Er war ein guter Mensch - das wissen wir beide -, und ich hätte mir mehr Mühe geben sollen, auch wenn unsere Beziehung nicht perfekt war. Jetzt gibt es Lawrence. Er ist auch nicht perfekt. Aber ich kann nicht immer weglaufen.« Sarah atmete tief und zitternd ein. »Irgendwann muss man sich umdrehen und dem Leben ins Gesicht sehen.«
Ich zog die Knie an die Brust und beobachtete, wie Lawrence mit Charlie spielte. Sie stapften wie Riesen durch die Straßen von Gotham City, stampften zwischen den hohen Türmen umher, und Charlie lachte und brüllte. Ich seufzte. »Er kann gut mit Charlie umgehen.«
»Na bitte. Danke, dass du dich bemühst. Du bist ein braves Mädchen, Bee.«
»Wenn du alles wüsstest, was ich getan habe, würdest du mich nicht brav nennen.«
Sarah lächelte. »Ich werde dich wohl besser kennenlernen, wenn ich Andrews Buch schreibe.«
Ich legte die Hände an den Kopf. Ich schaute in die dunklen Tunnel unter dem Rhododendronwald. Ich dachte an Flucht und Verstecken. In den Büschen des Parks. Bei Vollmond im Dschungel. Unter den Planken eines umgekippten Bootes. Ewig. Ich kniff die Augen zu und wollte schreien, aber es kam kein Laut heraus.
»Alles in Ordnung?«
»Ja. Ich bin nur müde.«
»Verstehe. Ich gehe mal eben zum Auto und rufe im Büro an. Hier habe ich keinen Empfang.«
Ich ging zurück zu Charlie und Lawrence. Sie warfen Stöcke ins Gebüsch. Als ich näher kam, machte Charlie weiter, doch Lawrence drehte sich zu mir um.
»Und?«, fragte er. »Hast du es ihr ausgeredet?«
»Was ausgeredet?«
»Das Buch. Sie hat davon gesprochen, ein Buch fertigzuschreiben, an dem Andrew gearbeitet hat. Hat sie dir das nicht gesagt?«
»Doch. Hat sie. Ich habe ihr das Buch nicht ausgeredet, aber ich habe ihr auch Sie nicht ausgeredet.«
Lawrence grinste. »Braves Mädchen. Siehst du? Wir kommen doch miteinander klar. Ist sie noch sauer? Warum ist sie nicht mit dir hergekommen ?«
»Sie musste telefonieren.«
»Ach so.«
Wir standen lange da und schauten einander an.
»Du hältst mich immer noch für einen Scheißkerl, oder?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht wichtig, was ich denke. Sarah mag Sie. Aber ich wünschte, Sie würden nicht immer sagen, ich sei ein braves Mädchen. Sie beide. Das sagt man zu einem Hund, wenn er den Stock bringt.«
Lawrence schaute mich an, und ich fühlte eine große Traurigkeit, weil seine Augen so leer waren. Ich schaute über das Wasser des Sees, auf dem die Enten schwammen. Ich sah, wie sich der blaue Himmel darin spiegelte. Ich schaute lange hin, denn ich begriff, dass ich wieder dem Tod in die Augen schaute, und der Tod wandte sich noch nicht ab, und ich konnte es auch nicht.
Dann ertönte Hundegebell. Ich zuckte zusammen und schaute mich um und war eine Sekunde lang erleichtert, weil ich die Hunde am anderen Ende des Rasens sah, und es waren nur dicke, gelbe Familienhunde, die mit ihrem Herrchen spazieren gingen. Dann entdeckte ich Sarah, die über den Weg auf uns zugelaufen kam. In einer Hand hielt sie ihr Handy. Sie blieb neben uns stehen, holte tief Luft und lächelte. Sie streckte uns die Arme entgegen, hielt dann aber inne und sah sich um. »Wo ist Charlie?«
Sie sagte es sehr leise und dann noch einmal lauter und schaute uns dabei an.
Ich blickte über den weiten Rasen. In einer Richtung waren die beiden gelben Hunde, die gebellt hatten. Ihr Herrchen warf ihnen Stöckchen in den See. In der anderen Richtung befand sich der dichte Rhododendrondschungel. Die dunklen Tunnel zwischen den Ästen wirkten verlassen.
»Charlie?«, rief Sarah. »Charlie? Oh mein Gott. Charlie !«
Ich drehte mich unter der heißen Sonne im Kreis. Wir rannten hin und her. Riefen ihn. Wieder und wieder. Charlie war weg.
»Oh mein Gott!«, sagte Sarah. »Jemand hat ihn mitgenommen! Oh mein Gott! Charlie!«
Ich stürzte zum Rhododendrondschungel und kroch in seinen kühlen Schatten und erinnerte mich an die Dunkelheit unter dem Baldachin des Waldes, als ich in jener Nacht mit Nkiruka in den Dschungel gegangen war. Während Sarah nach ihrem Sohn schrie, weitete ich die Augen in der Schwärze der Tunnel und starrte hinein. Ich schaute lange hin. Ich begriff,
Weitere Kostenlose Bücher