Little Bee
kleiner, dunkler Wege, die zwischen den Rhododendronbüschen hindurchführten, und rief Charlies Namen. Ich kroch planlos durch die finsteren Tunnel zwischen den Ästen, dann rannte ich wieder. Meine Unterarme waren mit blutigen Kratzern übersät, doch ich spürte keinen Schmerz. Ich weiß nicht, wie lange ich so gelaufen bin. Vielleicht fünf Minuten, vielleicht auch so lange, wie ein göttliches Wesen benötigt, um ein Universum und den Menschen nach seinem Ebenbild zu erschaffen, aber keinen Trost in ihm zu finden und dann entsetzt seinen langsamen, grauen Tod mit anzusehen, wohl wissend, dass es weiterhin gänzlich allein und ungetröstet sein wird. Irgendwie gelangte ich zurück zu der Stelle, an der Charlie aus Stöcken seine Stadt errichtet hatte. Ich riss sie auseinander und schrie seinen Namen. Ich suchte meinen Sohn unter Reisighaufen, die kaum höher als fünfzehn Zentimeter waren. Ich grub mit den Händen in welkem Laub. Natürlich wusste ich, dass mein Sohn nicht darunter war. Ich wusste es und griff doch nach allem, was sich darunter abzeichnete. Ich fand eine alte Chipstüte. Das zerbrochene Rad eines Kinderwagens. Meine Nägel bluteten in die noch kaum untergegrabene Geschichte unzähliger Familienausflüge.
Hinter der Rasenfläche entdeckte ich Little Bee und Lawrence, die von ihrer eigenen Suche im Rhododendron zurückkehrten. Ich rannte zu ihnen hinüber, doch auf halbem Weg kam mir ein letzter rationaler Gedanke: Er ist nicht auf dem Rasen, und er ist nicht im Gebüsch, also muss er im See sein. Während ich das dachte, spürte ich, wie der nächste Teil meines Gehirns dichtmachte. Die Panik, die in meiner Brust emporstieg, schlug über mir zusammen. Ich schwenkte von den beiden weg und stürzte ans Ufer des Sees. Ich watete bis zu den Knien hinein, dann bis zur Taille, starrte in das schlammige braune Wasser und schrie den Seerosen und verblüfften Enten Charlies Namen entgegen.
Da entdeckte ich etwas am schlammigen Boden des Sees. Unter Wasser, halb verdeckt von Seerosen und von kleinen Wellen verzerrt, sah es aus wie ein knochenweißes Gesicht. Ich griff hinein und packte es. Hob es ans Licht. Es war der halbe Schädel eines Kaninchens. Während er tropfend in meiner Hand lag, wurde mir klar, dass ich in dieser Hand eben noch mein Handy gehalten hatte. Mein Telefon war weg - mein Leben war weg - irgendwo verloren gegangen im Gebüsch oder im See. Ich stand im Wasser und hielt einen Schädel in der Hand. Ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Ein pfeifendes Geräusch erklang. Mir wurde klar, dass der Wind durch die leere Augenhöhle des Schädels blies. Da begann ich wirklich zu schreien.
Charlie O'Rourke. Vier Jahre alt. Batman. Woran dachte ich? An seine vollkommenen, kleinen weißen Zähne. Die wilde Konzentration in seinem Gesicht, wenn er Böse erledigte. Wie er mich einmal umarmt hatte, als ich traurig gewesen war. Wie ich seit Afrika zwischen verschiedenen Welten - zwischen Andrew und Lawrence, zwischen Little Bee und meinem Job - hin und her gelaufen war, überallhin gelaufen war, nur nicht in die Welt, in die ich gehörte. Warum war ich nie zu Charlie gelaufen?, schrie ich mich selbst an. Mein Sohn, mein wunderschöner Junge. Fort, fort. Er war so verschwunden, wie er gelebt hatte - während ich nicht hingesehen hatte. Stattdessen hatte ich in meine selbstsüchtige Zukunft geblickt. Ich dachte an die leeren Tage, die vor mir lagen und die kein Ende nehmen würden.
Dann spürte ich Hände auf den Schultern. Es war Lawrence. Er führte mich aus dem See ans Ufer. Ich zitterte im Wind.
»Wir müssen das jetzt systematisch angehen«, sagte er. »Sarah, du bleibst hier und rufst weiter nach ihm, damit er weiß, wohin er gehen muss, falls er hier herumirrt. Ich bitte alle Leute auf dem Gelände, uns bei der Suche zu helfen, und mache auch mit. Bee, du nimmst mein Handy und suchst dir eine Stelle, an der du Empfang hast. Dann rufst du die Polizei an. Du wartest am Eingang auf sie, damit du ihnen zeigen kannst, wo wir sind.«
Lawrence gab ihr sein Telefon und wandte sich wieder an mich. »Ich weiß, es klingt banal, aber die Polizei ist wirklich gut bei so etwas. Ich bin sicher, wir finden Charlie, bevor sie hier sind. Aber es ist sinnvoll, sie so schnell wie möglich einzubeziehen, einfach für alle Fälle.«
»Okay«, sagte ich. »Los.«
Little Bee stand immer noch da, Lawrences Telefon in der Hand, und starrte ihn und mich aus großen, angstvollen Augen an. Ich verstand nicht,
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