Little Bee
sehen.
»Ich war im Kindergarten«, sagte er. »Da haben die Bösen meinen Papa erwischt.«
Seine Lippen zitterten. Ich zog ihn an mich und hielt ihn fest, während er weinte. Ich schaute über seine Schulter in die kalten schwarzen Tunnel, die zwischen den verschlungenen Rhododendronwurzeln gähnten. Ich starrte in die Schwärze und sah, wie Andrew sich langsam an dem Elektrokabel drehte und seine Augen mich bei jeder Umdrehung anschauten. Ihr Blick war wie diese schwarzen Tunnel: Er nahm kein Ende.
»Hör zu, Charlie. Dein Papa ist nicht gestorben, weil du nicht da warst. Es ist nicht deine Schuld. Verstehst du das? Du bist ein guter Junge, Charlie. Es ist überhaupt nicht deine Schuld.«
Charlie entwand sich meinen Armen und sah mich an. »Warum ist mein Papa gestorben?«
Ich dachte nach.
»Die Bösen haben ihn erwischt, Charlie. Aber es sind keine, gegen die Batman kämpfen kann. Es sind Böse, gegen die dein Papa in seinem Herzen kämpfen musste und gegen die ich in meinem Herzen kämpfen muss. Es sind Böse, die innen sitzen.«
Charlie nickte. »Gibt es viele?«
»Viele was?«
»Viele Böse innen ?«
Ich blickte in die dunklen Tunnel und erschauerte. »Ich glaube, die hat jeder.«
»Können wir die besiegen?«
Ich nickte. »Natürlich.«
»Und die kriegen mich nicht, oder?«
Ich lächelte. »Nein, Charlie, ich glaube, diese Bösen kriegen dich nie.«
»Und dich auch nicht, oder?«
Ich seufzte. »Charlie, hier im Park gibt es keine Bösen. Wir machen Urlaub. Vielleicht könntest du dir einen Tag von Batman freinehmen.«
Charlie richtete den Stock auf mich und runzelte die Stirn, als wäre das nur ein Trick seiner Feinde. »Batman ist immer Batman.«
Ich lachte, und wir bauten weiter Häuser aus Stöcken. Ich legte einen langen, knochenweißen Stock auf einen Haufen, bei dem es sich laut Charlie um ein Batmobil-Parkhaus handelte.
»Ich würde mir manchmal gern einen Tag von Little Bee freinehmen«, sagte ich.
Charlie schaute mich an. Ein Schweißtropfen rann unter seiner Maske hervor. »Wieso?«
»Na ja, es war schwer, Little Bee zu werden. Ich musste viel durchmachen. Sie haben mich in ein Abschiebegefängnis gesperrt, und ich musste mir beibringen, auf bestimmte Weise zu denken und stark zu sein und deine Sprache so zu sprechen, wie ihr sie sprecht. Sogar jetzt macht es mir noch Mühe. Denn tief drinnen, da bin ich nur ein Mädchen aus dem Dorf. Ich wäre gern wieder ein Mädchen aus dem Dorf und würde gern die Dinge tun, die Mädchen aus dem Dorf eben tun. Ich würde gern lachen und den älteren Jungs zulächeln. Ich würde gern dumme Sachen machen, wenn Vollmond ist. Und vor allem würde ich gern meinen richtigen Namen benutzen.«
Charlie hielt inne, die Schaufel in der Luft. »Aber Little Bee ist doch dein richtiger Name.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nur mein Superheldenname. Ich habe auch einen richtigen Namen, so wie du Charlie heißt.«
Er nickte. »Wie ist dein richtiger Name?«
»Ich sage dir meinen richtigen Namen, wenn du dein Kostüm ausziehst.«
Charlie runzelte die Stirn. »Leider muss ich mein Batmankostüm für immer anbehalten.«
Ich lächelte. »Okay, Batman. Vielleicht ein anderes Mal.«
Charlie fing an, eine Mauer zwischen dem Dschungel und den Vororten von Gotham City zu errichten.
»Hm«, sagte er.
Nach einer Weile kam Lawrence zu uns herüber. »Ich übernehme jetzt hier«, sagte er. »Sieh bitte zu, ob du Sarah zur Vernunft bringen kannst.«
»Was ist denn los ?«
Lawrence kehrte die Handflächen nach außen und seufzte. »Geh einfach zu ihr, ja?«
Ich kehrte zur Decke im Schatten zurück. Sarah saß da und hatte die Arme um die Knie geschlungen.
»Also ehrlich«, sagte sie, als sie mich sah, »dieser verdammte Kerl.«
»Lawrence?«
»Manchmal frage ich mich, ob ich ohne ihn nicht besser dran wäre. Nein, das meine ich natürlich nicht so. Aber ehrlich. Habe ich denn nicht das Recht, über Andrew zu reden ?«
»Habt ihr euch gestritten?«
Sarah seufzte. »Ich glaube, Lawrence hat immer noch ein Problem damit, dass du bei mir bist. Das macht ihn gereizt.«
»Was hast du denn über Andrew gesagt?«
»Ich habe ihm erzählt, dass ich letzte Nacht Andrews Büro aufgeräumt habe. Ich bin seine Unterlagen durchgegangen. Ich wollte nur sehen, ob ich Rechnungen bezahlen muss, ob wir keine Schulden auf irgendeiner Kreditkarte haben und so weiter.«
Sie sah mich an. »Ich habe festgestellt, dass Andrew nie aufgehört hat, über die Ereignisse
Weitere Kostenlose Bücher