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Little Brother

Little Brother

Titel: Little Brother Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cory Doctorow
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mich reinrannte. Es war ein junger Obdachloser, vielleicht mein Alter oder ein bisschen älter. Er trug einen langen, speckigen Mantel, Jeans wie Kartoffelsäcke und verwarzte Turnschuhe, die aussahen wie einmal durch den Häcksler gelaufen. Sein langes Haar hing ihm ins Gesicht, und ein Zottelbart hing ihm bis runter in den Kragen eines völlig verblichenen Strickpullis.
    Das alles realisierte ich, während wir nebeneinander auf dem Bürgersteig lagen und die Leute an uns vorbeihasteten und komisch guckten. Sah so aus, als sei er in mich reingerannt, während er Valencia runterhastete, vermutlich von der Last seines Rucksacks gebeugt, der neben ihm auf dem Gehsteig lag, eng bedeckt mit geometrischen Kritzeleien mit Filzstift.
    Er setzte sich auf die Knie und wippte vor und zurück, als ob er betrunken war oder seinen Kopf gestoßen hatte.
    "Sorry, Kumpel", sagte er. "Hab dich nicht gesehen. Biste verletzt?" Ich setzte mich ebenfalls auf. Nichts fühlte sich verletzt an.
    "Hm, nein, alles okay."
    Er stand auf und lächelte. Seine Zähne waren erschreckend weiß und ebenmäßig, die hätten auch eine Anzeige für eine kieferorthopädische Klinik zieren können. Er streckte mir seine Hand entgegen, und sein Griff war kräftig und bestimmt.
    "Tut mir echt Leid." Auch seine Stimme war klar und aufgeweckt. Ich hätte erwartet, dass er klang wie einer dieser Besoffenen, die mit sich selbst sprachen, wenn sie nachts durch die Straßen der Mission wankten, aber er klang eher wie ein gut informierter Buchhändler.
    "Kein Problem", sagte ich.
    Er streckte nochmals die Hand aus.
    "Zeb."
    "Marcus."
    "Ein Vergnügen, Marcus", sagte er. "Hoffe, ich renne mal wieder in dich rein!" Lachend schnappte er seinen Rucksack, machte auf dem Absatz kehrt und eilte davon.
    [x]
    Den Rest des Weges nach Hause lief ich wie benebelt vor mich hin. Mom saß am Küchentisch, und wir plauderten über dies und jenes, gerade so, wie wir es immer getan hatten, bevor sich alles änderte.
    Ich ging rauf in mein Zimmer und ließ mich in meinen Stuhl fallen. Ausnahmsweise hatte ich keine Lust, mich ins Xnet einzuloggen. Das hatte ich schon heute früh vor der Schule getan und dabei festgestellt, dass mein Blogeintrag eine gigantische Kontroverse ausgelöst hatte zwischen Leuten, die sich meiner Meinung anschlossen, und anderen, die ernsthaft angepisst waren davon, dass ich ihnen sagte, sie sollten ihren Lieblingssport aufgeben.
    Hier lagen noch dreitausend Projekte rum aus der Zeit, bevor das alles angefangen hatte. Ich war dabei, eine Lochkamera aus Legos zu bauen, und ich hatte ein bisschen mit Lenkdrachen-Luftbildfotografie rumgespielt, indem ich eine alte Digitalkamera mit einem Auslöser aus Hüpfknete getunt hatte, der sich beim Start des Drachens ausdehnte, langsam zu seiner alten Form zurückfand und dabei die Kamera in gleichmäßigen Abständen auslöste. Außerdem war da noch ein Vakuum-Röhrenverstärker, den ich in eine prähistorische, verrostete und verbeulte Olivenöl-Dose eingebaut hatte - sobald das erledigt war, wollte ich eine Docking-Station für mein Handy einbauen und das Ganze um ein Set von 5.1-Surround-Boxen aus Tunfischdosen erweitern.
    Ich schaute über meine Arbeitsplatte und griff mir schließlich die Lochkamera. Gewissenhaft Legos ineinanderzustecken war heute genau mein Tempo.
    Ich nahm meine Uhr ab, ebenso den klobigen silbernen Zwei-Finger-Ring, der einen Affen und einen Ninja in Zweikampfbereitschaft zeigte, und ließ beides in die kleine Kiste fallen, die ich für das ganze Zeug benutzte, das ich jeden Tag in die Taschen und um den Hals packe, bevor ich das Haus verlasse: Handy, Brieftasche, Schlüssel, WLAN-Finder, Kleingeld, Akkus, aufrollbare Kabel,... ich ließ alles ins Kistchen ploppen und merkte plötzlich, dass ich etwas in der Hand hielt, das ich nicht in meine Tasche gesteckt hatte.
    Es war ein Stück Papier, grau und weich wie Flanell, ausgefasert an den Kanten, wo es aus einem größeren Stück Papier herausgerissen worden war. Es war übersät mit der kleinsten, sorgfältigsten Handschrift, die ich je gesehen hatte. Ich faltete es auf und nahm es hoch. Das Geschriebene bedeckte beide Seiten, ohne Unterbrechung von der linken oberen Ecke bis zu einer kaum lesbaren Unterschrift rechts unten auf der anderen Seite.
    Die Unterschrift lautete einfach Zeb. Ich nahm den Zettel und begann zu lesen.
    Lieber Marcus
    Du kennst mich nicht, aber ich kenne dich. Die letzten drei Monate, seit die Bay Bridge hochgejagt

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