Little Brother
und dann sagte ich stattdessen:
"Ich war im Gefängnis. Als sie die Brücke gesprengt hatten. Ich war die ganze Zeit im Knast."
Die Schluchzer, die dann kamen, klangen kein Stück wie meine Stimme. Sie klangen wie die Stimme eines Tiers, eines Esels vielleicht oder einer großen Katze in der Nacht. Ich schluchzte, dass meine Kehle brannte und meine Brust bebte.
Mom nahm mich in ihre Arme, genau so, wie sie es früher getan hatte, als ich ein kleiner Junge war; und dann streichelte sie mein Haar, murmelte mir etwas ins Ohr und wiegte mich hin und her, und langsam, ganz langsam, ließ das Schluchzen nach.
Ich holte einmal tief Luft, und Mom holte mir ein Glas Wasser. Ich setzte mich auf meine Bettkante, und sie setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl, und dann erzählte ich ihr alles.
Alles.
Naja, fast alles.
Kapitel 16
Zuerst wirkte Mom schockiert, dann wütend, und schließlich gab sie es ganz auf und saß bloß noch mit offenem Mund da, während ich sie durch die Vernehmungen führte, durch mein Einpinkeln, den Sack über meinem Kopf, Darryl. Ich zeigte ihr den Zettel.
"Warum...?"
Es war alles in diesem einen Wort: All die Vorwürfe, die ich mir während der Nächte machte, jeder Moment, den es mir an Mut mangelte, der Welt zu berichten, worum es wirklich ging, warum ich in Wirklichkeit kämpfte und was das Xnet in Wahrheit inspiriert hatte.
Ich atmete tief durch.
"Sie haben mir gesagt, ich würde ins Gefängnis gehen, wenn ich darüber rede. Nicht nur für ein paar Tage. Für immer. Ich... ich hatte Angst."
Mom saß eine lange Zeit nur bei mir und sagte kein Wort. Dann: "Und was ist mit Darryls Vater?" Genauso gut hätte sie mir eine Stricknadel in die Brust bohren können. Darryls Vater. Er musste glauben, dass Darryl schon lange, lange tot war.
Und war er es etwa nicht? Wenn das DHS dich widerrechtlich drei Monate lang festgehalten hat, lassen sie dich dann überhaupt noch mal raus?
Aber Zeb war rausgekommen. Vielleicht würde Darryl auch rauskommen. Vielleicht konnten ich und das Xnet dabei helfen, Darryl rauszubekommen.
"Ich hab es ihm nicht erzählt."
Jetzt fing Mom an zu weinen. Das tat sie nicht oft; es war ihre britische Ader. Das machte ihre kleinen hicksenden Schluchzer noch viel schwerer zu ertragen.
"Du wirst es ihm erzählen", brachte sie hervor. "Du musst."
Ja."
"Aber zuerst müssen wir es deinem Vater erzählen."
[x]
Dad kam längst nicht mehr zu einer bestimmten Zeit nach Hause. Durch seine Beratungstätigkeit - seine Kunden hatten jetzt reichlich Arbeit, seit das DHS sich auf der Halbinsel nach Data-Mining-Startups umsah - und die lange Pendelei nach Berkeley kam er irgendwann zwischen sechs Uhr abends und Mitternacht nach Hause.
Heute abend rief Mom ihn an und sagte, er möge "auf der Stelle" heimkommen. Er entgegnete etwas, und sie wiederholte bloß "auf der Stelle".
Als er ankam, hatten wir uns im Wohnzimmer hingesetzt und den Zettel zwischen uns auf den Kaffeetisch gelegt.
Beim zweiten Mal fiel das Erzählen leichter. Das Geheimnis war nicht mehr so drückend. Ich schönte nichts, und ich verheimlichte nichts. Ich redete mir alles von der Seele.
Ich hatte die Phrase schon gehört, aber nie zuvor begriffen, was sie eigentlich bedeutete. Das Geheimnis für mich zu behalten hatte mich beschmutzt, meinen Geist verdorben. Es hatte mich ängstlich und beschämt gemacht. Es hatte mich zu all dem gemacht, was Ange über mich gesagt hatte.
Dad saß die ganze Zeit steif wie ein Amboss da, sein Gesicht wie aus Stein gemeißelt. Als ich ihm den Zettel reichte, las er ihn zwei Mal und legte ihn dann sorgfältig beiseite.
Er schüttelte den Kopf, stand auf und ging zur Haustür.
"Wohin gehst du?", fragte Mom besorgt.
"Ich muss mal um den Block", war alles, was er mit brechender Stimme hervorbrachte.
[X]
Wir sahen einander unsicher an, Mom und ich, und warteten auf seine Rückkehr. Ich versuchte mir vorzustellen, was in seinem Kopf vorgehen mochte. Nach den Attentaten war er ein so anderer Mensch geworden, und ich wusste von Mom, dass das, was ihn geändert hatte, die Tage waren, während derer er mich für tot gehalten hatte. Er war zu der Ansicht gelangt, dass die Terroristen seinen Sohn beinahe getötet hatten, und das hatte ihn verrückt gemacht.
Verrückt genug, um alles zu tun, was das DHS von ihm verlangte: sich einzureihen wie ein braves kleines Lamm, sich kontrollieren zu lassen, sich antreiben zu lassen.
Und nun wusste er, dass es das DHS war, das mich gefangen
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