Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
improvisiertes Gefängnis im Süden von San Francisco. Der Name war entstanden, als die ersten Handybilder davon im Internet auftauchten. Auf denen wirkte die Anlage wie eine albtraumhafte Geflügelfabrik.
Bestimmt wartete Ange dort noch immer auf mich, und ich hatte sie in der Menge verpasst. Wie hatten Menschen vor der Erfindung des Telefons überhaupt überlebt?
»Gib mir mal bitte dein Handy«, bat ich meine Mutter.
Mein vernebeltes Hirn brauchte etwas, bis es Anges Nummer ausspuckte, die ich seit Jahren nur noch über die Kurzwahl angewählt hatte. »Habt ihr was von ihm gehört?«, fragte sie sofort, als sie ranging.
»Könnte man so sagen.«
»Marcus? Hey, wo zum Teufel steckst du?«
»Daheim.«
»Was zum Teufel machst du denn zu Hause?«
»Mich auf den Sommerschlaf vorbereiten.« Sommerschlaf, oder Ästivation, ist ein herrliches Substantiv. Genau wie beim »Winterschlaf« von Lebewesen ist damit eine »ausgedehnte Starre oder Ruheperiode« gemeint. Und genau die wollte ich mir jetzt gönnen.
»Schlaf ja nicht, ehe ich da bin! Wie kannst du es wagen, aus dem Knast zu verschwinden, ohne mich als Erstes zu suchen?«
»Hast ja recht, bin halt ein Schuft. Tut mir echt leid, Süße.«
»Lass dich baden, wachsen, parfümieren und zu Bett bringen. Ich bin in fünfunddreißig Minuten da.«
»Aye aye, Captain.«
Das Wiedersehen war genau das, was ich jetzt brauchte, und mehr. Beide hatten wir Verletzungen davongetragen. Ange hatte Tränengas abgekriegt und war niedergetrampelt worden. Dann hatte man sie festgenommen und wieder gehen lassen. Von kleineren Details abgesehen, war es ihr ähnlich ergangen wie mir. Die meiste Zeit war aber Lemmy bei ihr gewesen – irgendwie hatten sie es geschafft zusammenzubleiben. Und als das richtig üble Gedrängel anfing, hatte er sie zum Schutz wie bei einer Zirkusnummer über den Kopf gehoben. Nach ihrer Entlassung hatte sie ihn noch einmal gesehen und ihm versprochen, sich zu melden, sobald sie mich gefunden hatte.
Wir redeten noch etwas, küssten einander die Wunden und hielten uns fest, bis wir schließlich nur noch flüsterten und uns der Schlaf überkam.
Und am nächsten Tag ging ich zur Arbeit.
Natürlich tat ich das. Schließlich war schon Donnerstag, die Wahlen standen vor der Tür, jemand musste dafür sorgen, dass Joseph Noss sie gewann, und dieser Jemand war wohl ich. Auf dem Weg zur Arbeit griff ich bestimmt hundertmal nach meinem Handy – um mir etwas zu notieren, Ange eine Nachricht zu schicken (sie schlief immer noch in meinem Bett, weil Uni für sie heute erst mittags begann), nach dem Wetterbericht oder meinen Tweets zu sehen. Und jedes Mal dachte ich: Mist, ich hab mein Handy verloren. Ich muss es vom Laptop aus anrufen und mit Dalia was ausmachen. Der nächste Gedanke war: Ich sollte mir das wirklich notieren. Wo ist mein Handy? Und so begann es von vorn. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder heulen sollte.
Ich betrat Joes Büro und blieb stehen. Irgendwas war anders als sonst. Erst wusste ich nicht genau, was. Dann begriff ich.
Alle starrten mich an.
Jede einzelne Person im Büro fixierte mich mit eulengleicher Aufmerksamkeit, einer seltsamen Mischung aus Ehrfurcht und Angst. Ich winkte flüchtig, dann zog ich meine Jacke aus und ging weiter an meinen Tisch. Dort ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen, nahm Schleicher aus seiner Tasche, schloss Monitor, Maus und alles Weitere an und gab meine Passwörter für Rechner und Netzwerk ein. Die Stille im Büro war derart zermürbend, dass ich mich zweimal vertippte.
Ich ging durch meine übliche Morgenroutine: E-M ails checken, Serverlogs kontrollieren, Back-up-Pflege – alles Bürotätigkeiten, die ich auch im Halbschlaf noch hingekriegt hätte.
Und tatsächlich war ich noch so benommen – oder abgelenkt – , dass ich erst nach ein paar Minuten schlagartig nach meiner Maus schnappte und all die Tabs, die ich gerade geschlossen hatte, wieder aufmachte. Hektisch hämmerte ich auf die Tasten ein. Ich konnte richtig spüren, wie die Federn darunter ihre Fedrigkeit verloren. Ich klickte, klickte, klickte.
Dann stand ich auf und drehte mich zu all den starrenden Augen um. »Kann mir jemand bitte mal erklären, was zum Teufel hier eigentlich los ist?«
Alle Augen wandten sich Liam zu, der nun aufstand und zu mir hinüberkam.
»Magst du vielleicht ’nen Kaffee trinken gehen?«, fragte er.
Mir ging auf, dass das tatsächlich genau das war, was ich wollte, mehr als alles andere in diesem
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