dabei hatte ich Liam für den Trottel gehalten, der das Herz am rechten Fleck trug, aber einfach nicht die nötige Weitsicht besaß, diese Vision einer besseren Welt mit einer besseren Regierung mit mir zu teilen – die Vision von einer Welt, in der die richtigen Leute die Macht hatten und die richtigen Gesetze verabschiedeten. Jetzt sah ich, wer in Wahrheit der Trottel war: Es war der Idiot, der mir jeden Morgen aus dem Spiegel entgegenblickte, und ich war seinen Anblick ziemlich leid.
Ange antwortete weder auf Mails noch auf IM s und ging auch nicht ans Telefon. Egal – bei dem, was ich vorhatte, ging es nicht um sie, sondern um mich.
Die erste Darknet-Seite hochzuziehen hatte ganz schön Arbeit gemacht. Diesmal ging es schon leichter, und bald hatte ich das ganze Johnstone-Paket an einem hübschen, sicheren Plätzchen deponiert. Ich schrieb einen kurzen Blogeintrag, in dem ich erklärte, um wen es hier ging und sogar, wie ich an die Dokumente gekommen war. Zähneknirschend gab ich zu, dass sich ein paar anonyme Idioten Root-Zugriff auf meinen Laptop verschafft und dasselbe auch mit meiner Erzfeindin getan hatten.
Jolu hatte recht: Viel zu lange schon hatte ich zugelassen, dass mich Johnstone wie ein zu Tode verängstigtes, blökendes Schaf vor sich hertrieb. Es wurde Zeit, dass ich den Spieß umdrehte, statt einfach nur schreiend davonzulaufen.
Ich veröffentlichte den Text aber nicht. Beinahe hätte ich es getan. Doch ich tat es nicht.
Stattdessen mailte ich ihn samt einem Link zu den Dokumenten an
, und . Der Vollständigkeit halber auch gleich noch an – zwar las kaum noch jemand heutzutage Mails, die an die eigene Webmaster-Adresse gingen (solche Adressen waren ein einziger Spam-Magnet), doch hielt ich ein gründliches Vorgehen in diesem Fall für geboten.
Gerade, als ich auf »Senden« geklickt hatte und mir vor Angst fast in die Hose machte, rief Ange zurück.
»Was ist los? Ich war in der Unibibliothek.«
»Joe hat mich gefeuert. Carrie Johnstone hat seinen Gegnern gesteckt, dass ich das mit den Darknet-Docs war, und die haben das FBI angerufen. Joe hat mit ihnen ausgehandelt, dass sie mich in Ruhe lassen, wenn er mich dafür in die Tonne tritt. Also bin ich heim und habe Carrie Johnstone einen Link zu ihren d0x geschickt. Dir habe ich auch gerade eine Kopie geschickt, an deine Adresse bei der tunesischen Piratenpartei. Falls die mich aus dem Verkehr ziehen, machst du das öffentlich, okay?«
»Marcus?«
»Ja?«
»Was hast du gerade gesagt?«
Ich wiederholte es.
»Ich hatte befürchtet, dass du das gesagt hast.« Längeres Schweigen.
»Hallo?«
»Ich bin noch dran.«
»Ich werde mich nicht entschuldigen«, stellte ich klar. »Das ist mein Leben. Ich bin es leid, ständig davonzulaufen. Ich bin es leid, ein dummer Idealist zu sein. Es wird Zeit, das Ruder zu ergreifen, Zeit, etwas zu tun. Es tut mir leid, dass ich dir nicht vorher Beschied gesagt habe, aber … «
»Ich erwarte keine Entschuldigung«, sagte sie. »Du schuldest mir auch keine Erklärung. Du schuldest mir gar nichts, das hast du ziemlich klargemacht. Keine Angst, ich passe gut auf die Adresse auf, und falls dir was passiert, mach ich alles öffentlich.« Den Tonfall, den sie gerade benutzte, hatte ich noch nie bei ihr gehört. Ich hatte keine Ahnung, ob sie sauer oder verängstigt war … Vielleicht sogar ein wenig stolz?
»Oh«, sagte ich. »Na dann.«
»Ich glaube, ich muss jetzt los«, sagte sie und legte auf. Stolz war sie also wohl eher nicht.
Meine Eltern waren zur Abwechslung mal beide außer Haus: Dad war einkaufen, und Mom traf sich mit jemandem, der vielleicht Arbeit für sie hatte. Das Haus fühlte sich leer an – beinahe hohl. Unheimlich. Jedes Knarren und jedes Klopfen war ein Trupp Zyz-Söldner, der jeden Augenblick die Tür eintreten und mich entführen würde.
Und obwohl ich doch wusste, dass sie sich genau das nicht mehr leisten konnten, jetzt, da ich den Finger am Drücker hatte, litt ich furchtbare Angst. Vielleicht würden sie ja auch meine Eltern entführen. Oder Ange. Was hatte Jolu mir sonst noch vorgeschlagen? Nach Albanien zu fliehen. Ich hatte aber nicht mal einen gültigen Pass – der, mit dem ich vor zwei Jahren Moms Verwandte in England besucht hatte, war abgelaufen. Was noch? Barbara Stratford einzubeziehen. Gute Idee eigentlich – letztes Mal hatte sie mir geholfen.
Also schnappte ich mir