Little Miss Undercover - Ein Familienroman
nett gewesen.
Ray übergibt Dad ein gefaltetes Stück graues Packpapier. »Wirf doch mal einen Blick drauf, Al.« Dann dreht er sich zu Rae: »Glaub ja nicht, ich lasse mir das gefallen.«
Ich behalte Dad im Auge, während er den Zettel auseinanderfaltet. Offenbar kostet es ihn übermenschliche Anstrengung, nicht in lautes Gelächter auszubrechen.
Rae antwortet ihrem Onkel: »Wovon redest du überhaupt?« Ihr schauspielerisches Talent ist beachtlich.
»Das wirst du mir büßen. Und zwar richtig«, sagt Onkel Ray, so entschlossen, dass sogar mir ein Schauer über den Rücken läuft.
Mom zieht es vor, den gesamten Vorfall zu ignorieren, was noch befremdlicher wirkt als ihre plumpen Fragen.
»Sagen Sie, Daniel, wie alt sind Sie eigentlich?«
»Das geht dich nichts an«, herrsche ich Mom an.
»Ich habe kein Problem damit. Siebenunddreißig.«
Ich stöhne vor Wut.
»Ein gutes Alter«, sagt meine Mutter. »Dann sind Sie also ... 1970 geboren, ja?«
»Mom!« Ich versuche, es wie eine Drohung klingen zu lassen.
»Wann haben Sie Geburtstag, Daniel?«
»Diese Frage solltest du auf keinen Fall beantworten.«
»Am fünfzehnten Februar«, gibt Daniel an. Dabei sieht er so aus, als wollte er am liebsten eine Münze werfen, um zu entscheiden, wer von uns beiden die größere Macke hat: Mom oder ich.
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht antworten«, sage ich frustriert.
»Entspann dich, Isabel.«
Mom notiert sich schon mal die Früchte ihrer Recherche. »15. 02.1970. Mir liegt viel daran, keinen Geburtstag zu übergehen.«
Währenddessen versucht Dad im Hintergrund, den Streit zwischen Rae und Ray zu schlichten.
»Rae, gib deinem Onkel das Hemd zurück«, sagt er. Dabei drückt er mir den Packpapierzettel in die Hand.
»Wie kommst du darauf, dass ich sein Hemd habe?«
»Wegen der Lösegeldforderung, Schätzchen.«
Daniel sieht mir über die Schulter, als ich den Zettel entfalte. Aus ausgeschnittenen und aufgeklebten Zeitungsbuchstaben setzt sich folgende Nachricht zusammen:
»Rae, gib ihm dieses verdammte Hemd zurück«, sage ich mit einem möglichst einschüchternden Blick.
»Du kannst das da ruhig auf Fingerabdrücke untersuchen«, entgegnet sie, ihrer Sache sehr sicher. Dann wendet sie sich an Daniel: »Immer soll ich es gewesen sein, bloß weil ich vor einer Weile Drogen genommen habe. Jetzt bin ich schon sechs Monate clean, aber das interessiert die gar nicht. Wie sollen wir da je wieder vertrauensvoll miteinander umgehen?«
Mit dieser Einlage habe ich gerechnet. Sie ist noch das kleinste Problem. Onkel Ray geht auf Daniel zu, er wirkt aufrichtig bekümmert.
»Tut mir leid. Ich bin Ray, Izzys Onkel.«
»Zwei Rays? Sorgt das nicht für Verwirrung?«
»Sie wurde nach mir benannt. Als Olivia mit ihr schwanger war, hatte ich Krebs. Ich war praktisch schon hinüber, darum sollte wenigstens mein Name mit ihr weiterleben.«
»Aber dann ist er gar nicht gestorben, so wie er es eigentlich hätte tun sollen«, erklärt Rae. Es klingt so, als würde sie das Ende eines spannenden Thrillers verraten.
»Rae, fünf Dollar, wenn du sofort von hier verschwindest«, gehe ich dazwischen.
»Leg noch fünf drauf, und du hast gewonnen.«
Das Geld wechselt den Besitzer, ich merke, dass es höchste Zeit ist, von hier zu verschwinden.
»War nett, dich kennenzulernen, Daniel. Du bist ganz anders, als ich es erwartet habe«, sagt Rae, während sie den Raum verlässt.
Onkel Ray folgt ihr auf dem Fuß. »Wir sind noch längst nicht fertig, du und ich.«
Ich starte einen Erklärungsversuch: »Die haben da so ein Ding laufen.«
»Die haben sich den Krieg erklärt«, sagt Mom. Dieses grauenhafte Grinsen weicht ihr dabei nicht von den Lippen.
»Sie sind also Zahnarzt?«, fragt Dad, bemüht, nicht allzu schneidend zu klingen.
»Ja«, antwortet Daniel fröhlich.
»Wie kommt’s?«, ist Dads nächste Frage.
»Ich liebe diesen Beruf. Mein Vater ist Zahnarzt, mein Großvater war es auch. Steckt wohl in den Genen.«
»Ist das nicht reizend?« Moms Tonfall klingt eher gereizt.
»Wie lange unterrichten Sie schon?«, erkundigt sich Daniel.
»Über zwanzig Jahre«, tönt Mom.
»Dann muss es Ihnen ja sehr am Herzen liegen.«
»So würde ich das nicht sagen.«
»Wir sollten uns vielleicht auf den Weg machen«, sage ich aufgrund der spürbar abgekühlten Atmosphäre.
»Als Berufung würde ich das auch nicht bezeichnen«, führt Dad diese Argumentationslinie fort. »Im Grunde mögen wir Kinder gar nicht« flüstert er,
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