Little Miss Undercover - Ein Familienroman
nach Andrews Verschwinden kein bisschen besorgt schien. Sie beharrte darauf, dass ihr Sohn jeden Moment wieder auftauchen würde, und es klang sehr überzeugend. Offenbar glaubte sie wirklich, Andrew wäre einfach weggelaufen. Zumindest nach Einschätzung von Captain Meyers. Andrews Bruder Martin hingegen beteiligte sich zwar an den Suchaktionen, doch eher halbherzig. Meyers zufolge schien sich Martin wegen seines vermissten Bruders auch nicht die geringsten Vorwürfe zu machen, obwohl es in dieser Situation eine angemessene Reaktion gewesen wäre. Dennoch sah Meyers keinen Grund, »der Familie was zu unterstellen«.
»Und was können Sie mir über den Zeltplatz verraten?«, fragte ich. Hoffentlich fiel dem Captain nicht auf, wie sehr ich im Dunkeln tappte.
»Guter Platz. Kommt natürlich auf die Witterung an.«
»Auch ein guter Ort, um verlorenzugehen?«
»Wenn Sie wissen wollen, ob Andrew sich beim Wandern verlaufen und es ihn irgendwo im Hinterland erwischt hat, halte ich das für sehr wahrscheinlich. Die Gegend ist weitläufig, das Wasser recht tief, überall, und die Felsen haben scharfe Kanten; außerdem gibt es genug Blattwerk, um eine Leiche zu verdecken, bis sie völlig verwest ist. Manche Leute laufen einfach immer weiter, wenn sie sich verirrt haben. Sie glauben, dass sie den Weg wiederfinden, dabei verlaufen sie sich mehr und mehr. In einer Nacht kann Andrew eine gewaltige Strecke zurückgelegt haben. Nach allem, was wir über den Jungen in Erfahrung bringen konnten, ist das die logischste Erklärung.«
»Vielleicht ist er auch einfach ausgerissen«, regte ich an.
»Denkbar ist vieles«, erwiderte er.
»Halten Sie meine Nachforschungen für Zeitverschwendung?«
»Wenn ich ehrlich sein soll: ja«, sagte der Captain freundlich.
»Könnten Sie das vielleicht auch meiner Mutter mitteilen?«
Meyers meinte, er habe damals während der Suchaktion öfter das Vergnügen gehabt, mit meiner Mutter zu sprechen, und er lege keinen gesteigerten Wert darauf, die Bekanntschaft zu erneuern. Zu seinen Lammkoteletts mit Knoblauchkartoffeln trank er einen Whiskey. Manches an ihm wirkte altmodisch – so nannte er mich beharrlich »Herzchen« –, aber er war alles andere als der typische Kleinstadtsheriff. Was Verbrechen anging, konnte Reno mit jeder größeren Stadt mithalten, so dass dieser bescheidene Mann sich zu einem erfahrenen Ermittler gemausert hatte. Ich war mir sicher, dass er im Fall Snow ordentliche Arbeit geleistet hatte. Ich war mir allerdings weniger sicher, ob die Arbeit wirklich gut genug gewesen war.
Während der Rückfahrt – gelegentlich durch die (vier) Anrufe meiner Mutter unterbrochen, die mir riet, ein Motel aufzusuchen, bis der Sturm sich gelegt hatte – brütete ich über zwei Details, die mir in der Akte aufgefallen waren. Ein Zeuge vom Zeltplatz hatte ausgesagt, beide Brüder gesehen zu haben, und zwar einen Tag nach Andrews vermeintlichem Verschwinden. Martin hingegen hatte beschworen, er sei an diesem Morgen allein auf dem Zeltplatz gewesen und habe nach seinem Bruder gesucht. Meyers erklärte den Widerspruch damit, dass der Zeuge sich im Tag geirrt habe. Er habe beide Brüder am Tag davor gesehen. Diese Erklärung klang durchaus schlüssig, dagegen sprach nur, dass der Zeuge Professor für Geschichte war. Die haben in der Regel einen Sinn für Daten und Details. Außerdem gab es noch Martins Erklärung, die er verfasst hatte, als er das erste Mal zur Polizei ging, um eine Vermisstenmeldung zu machen. Eine Zeile war mir aufgefallen, die man auch leicht überlesen oder dem Schockeffekt zuschreiben konnte, das handgeschriebene Äquivalent eines Tippfehlers, gewissermaßen: »Wir haben den ganzen Vormittag nach Andrew gesucht.« Es war durchaus denkbar, dass Martin nicht allein gesucht hatte, doch als er danach gefragt wurde, sagte er schließlich aus, er sei den ganzen Vormittag allein gewesen.
Seit Beginn meiner Nachforschungen hatte ich Martin Snow drei Nachrichten auf Band gesprochen, bis dahin ohne einen einzigen Rückruf.
Getürkter Zahnarzttermin Nr. 2
Fatalerweise erklärte Mom meiner Schwester, ich hätte nur deswegen gekündigt, weil der »Dentist«, wie er von nun an immer heißen sollte, mit mir Schluss gemacht hatte. Selbst Rae wusste, dass es so nicht stimmen konnte, dass ich für meine Entscheidung schon komplexere Beweggründe haben musste als bloß eine Männergeschichte. Da sie die Dinge aber so gern ins Lot bringt, beschloss Rae, auch diese Geschichte ins Lot zu
Weitere Kostenlose Bücher