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Viertel: Die alten einstöckigen Arbeiterwohnungen werden abgerissen und statt dessen Betonklötze hingestellt. Stefanakos’ Büro liegt in der zweiten Etage. Es handelt sich um eine Zweizimmerwohnung: Im Durchgangszimmer sitzt die Sekretärin, dahinter liegt das Arbeitszimmer des Abgeordneten. Stella, Stefanakos’ Sekretärin, ist von der Stathatou augenscheinlich benachrichtigt worden, denn mein Name ist ihr vertraut. Bevor ich Platz nehme, sehe ich mich kurz um. Ich kann nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches entdecken – mit Ausnahme der vielen Blumen. Überall stehen Vasen herum: auf dem Schreibtisch, auf dem Besuchertischchen, auf dem Fußboden.
»Die Einwohner von Egaleo haben sie vorbeigebracht«, erläutert Stella, die meine Verwunderung bemerkt hat. »Die Hälfte habe ich schon entsorgt, aber jeden Tag bringen sie neue. Seine Tür war stets offen, und er hat sich unermüdlich für die kleinen Leute eingesetzt. Dafür haben sie ihn geliebt.« Sie setzt sich an ihren Schreibtisch und blickt mich erwartungsvoll an: »Ich höre.«
»Es wurde beobachtet, daß sich Favieros und Vakirtsis kurz vor ihrem Freitod auffällig verhalten haben. Nun möchte ich Sie fragen, ob Sie auch an Stefanakos etwas Ungewöhnliches bemerkt haben?«
Sie denkt kurz nach. »Ich dachte an eine Krankheit, die er geheimhalten wollte«, antwortet sie schließlich.
Ihre Antwort überrascht mich. »Was wollen Sie damit sagen?«
Wiederum hält sie inne. Sie gehört zu den Menschen, die lange überlegen, bevor sie antworten. Meiner Erfahrung nach kommen dadurch die brauchbarsten Aussagen zustande.
»Er wirkte niedergeschlagen und war schlechter Stimmung, so als mache ihm eine schwere Erkrankung zu schaffen. Immer wenn er zu Mittag hier war, sind wir zusammen in eines dieser alteingesessenen Speiselokale gegangen, zwei Straßen von hier. Das war zur festen Gewohnheit geworden. In der letzten Zeit aber hatte er keinen Hunger. Entweder gingen wir dann gar nicht essen, oder er hat sein Essen kaum angerührt.«
»Haben Sie ihn nicht gefragt, was los sei?«
»Doch, als ich in seinem Schreibtisch die Beruhigungsmittel gefunden habe.«
»Beruhigungsmittel?«
»Ja. Loukas war stets gut gelaunt, extrovertiert und mit einem unbändigen Selbstvertrauen ausgestattet. Er hatte keine Beruhigungspillen nötig. Als ich eines Tages seine Schreibtischschublade aufzog, fand ich eine Schachtel. Das war ungewöhnlich, und da habe ich ihn danach gefragt.«
»Und was hat er Ihnen geantwortet?«
»Daß alle Menschen Stimmungsschwankungen hätten.«
»Und hat Sie die Antwort zufriedengestellt?«
»Nein, aber –«
»Aber?«
Nun kommen ihr die Worte nur schwer von den Lippen. »Ich dachte, er hätte Krebs und wollte nicht darüber reden. Das geht vielen so, wissen Sie.«
»Wie lange vor seinem Selbstmord war das?«
»Etwa zwei Wochen.«
Plötzlich fällt mir eine Frage ein, die ich auch Favieros’ Sekretärin hätte stellen sollen.
»Können Sie sich erinnern, ob er in der Zeit einen oder mehrere Anrufe erhalten hat, die ihn in Aufregung versetzt haben?«
»Ein Abgeordneter nimmt in seinem Büro jede Menge Anrufe entgegen, Herr Kommissar, die halbe Welt ruft hier an. Daher kann ich Ihnen nicht mit Sicherheit sagen, ob ihn ein Anruf in Verwirrung gestürzt hat. Jedenfalls kann ich mich an keinen derartigen Vorfall erinnern.«
»Haben Sie irgendeine andere Veränderung an seinem Verhalten bemerkt?«
Mit Absicht formuliere ich die Frage unbestimmt, ohne auf seinen Computer anzuspielen, um sie dadurch nicht zu beeinflussen. Doch sie winkt entschieden ab: »Nein.«
»Besaß Stefanakos einen PC ?«
»Ja.«
»Saß er vielleicht stundenlang davor?«
Sie lacht auf. »Loukas hat endlos viele Stunden vor dem Rechner verbracht, Herr Kommissar. Deshalb benützte er auch einen Laptop, den er überallhin mitnehmen konnte. Er hielt alles auf seinem Computer fest, seine Reden, seine Recherchen, seine Notizen über Anträge einfacher Bürger aus seinem Wahlkreis. Daher kann ich Ihnen nicht sagen, ob er in den letzten Wochen mehr Zeit vor seinem Rechner verbracht hat, weil er praktisch immer davorsaß.«
Diese Worte geben mir neuen Auftrieb. Wenn Stefanakos alles auf seinem Computer festgehalten hat, ist nicht auszuschließen, daß wir auf Notizen stoßen, die uns möglicherweise entscheidend weiterhelfen.
»Wo befindet sich sein Computer derzeit?«
»In seinem Arbeitszimmer.« Und sie deutet mit dem Kopf zu Stefanakos’ Büro.
»Kann ich ihn
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