Live!
überlasse die Auslegung seinem Gutdünken. Ich bleibe beim ersten Kartentelefon auf meiner Route stehen und rufe zu Hause an. Ich lasse mir von Adriani Koula weiterreichen.
»Gehen Sie sofort ins Grundbuchamt und suchen Sie nach der Akte des Pontusgriechen«, sage ich, sobald ich sie an der Strippe habe. »Ich brauche die Personalien des Verkäufers. Es ist dringend und duldet keinen Aufschub, auch wenn gerade Kochunterricht angesagt ist.«
Sie schweigt einen Augenblick und antwortet dann ernst: »Bin schon unterwegs.«
Koula ist mir zwar sehr sympathisch, aber wenn ich sie Adrianis Einfluß anheimgebe, dann tanzen mir bald beide auf der Nase herum.
22
W ie schnell kann man eine Akte aus dem Grundbuchamt verschwinden lassen? Das hängt von der Dosis des dafür erforderlichen Vitamin B ab. Und die BALKAN PROSPECT verfügt offenbar über die Höchstmenge. Als Koula im Grundbuchamt ankam, war die Akte unauffindbar. Irgendwo müsse sie hineingerutscht sein, sie solle eine Telefonnummer hinterlassen oder in ein paar Tagen nochmals vorbeikommen, beschied man ihr.
Schließlich ist Koula die Zubereitung der Auberginen Imam teuer zu stehen gekommen, da sie den ganzen Nachmittag damit zubrachte, in der Larymnis-Straße die Personalien des Verkäufers herauszukriegen. Als sie schon fast aufgegeben hatte, stieß sie auf eine alte Frau, die vor dem Verkauf der Wohnung die Bezahlung der laufenden Rechnungen übernommen hatte. Von ihr erfuhr sie den Namen der Eigentümerin: eine gewisse Irini Leventojanni, wohnhaft in Polydrosso.
Im übrigen verbrachte ich den Abend dann damit, Hymnen zu lauschen. Nein, nicht Marienhymnen in der Kirche, sondern Lobgesängen auf Stefanakos vor dem Fernseher. Das interessante daran war: Die Talkrunde lief auf Sotiropoulos’ Sender und nicht dort, wo die Selbstmorde geschehen waren, und er selbst moderierte die Sendung. Die Gäste hoben zunächst zu einer Beweihräucherungsrunde an. Der geladene Minister und die anwesenden Parlamentarier sprachen von Stefanakos’ unverwechselbarem Stil und seiner moralischen Integrität. Sie redeten davon, wie erfahren er als Abgeordneter gewesen sei und was das Parlament an ihm verloren habe. Die beiden Funktionäre der Linken gruben alte Geschichten aus – von den gemeinsamen Kämpfen, dem politischen Untergrund während der Juntazeit, dem Aufstand im Polytechnikum und der Folterhaft, die Stefanakos bei der Militärpolizei durchlitten hatte. Die Publikumsattraktion unter den Teilnehmern war jedoch ein Minister aus einem anderen Balkanland, der via Satellit zugeschaltet wurde. Mit seiner Lobrede überbot er alle anderen: Stefanakos habe beharrlich im Hintergrund für die Freundschaft und Zusammenarbeit der Balkanländer gewirkt. Er sei ein wahrer Freund gewesen, der nach dem Sturz des Sozialismus den wirtschaftlichen Aufschwung seines Landes unterstützt habe, indem er eine Brücke zwischen seinem Land, der griechischen Regierung und Brüssel schlug. Er sei ein Politiker gewesen, über dessen Verlust die gesamte Balkanregion tief trauere.
Sotiropoulos stellte kaum Zwischenfragen, doch nachdem alle ihre Botschaft losgeworden waren, warf er die erste spitze Bemerkung in die Runde: Wie eng waren Stefanakos und Favieros befreundet? Hut ab, dachte ich, und schlug mir mit der Hand an die Stirn. Diese Frage hätte ich mir schon längst stellen sollen. Die Funktionäre der Linken waren fest davon überzeugt, daß sich beide aus der Studentenbewegung kannten, da sie in denselben Kreisen verkehrten. Die übrigen Parlamentarier wollten mit der Sprache nicht so recht herausrücken. Nun ja, sie kannten sich zwar seit der Juntazeit, aber man könne nicht sagen, ob sie noch in Verbindung gestanden hätten. Beide seien zwar Männer mit einem großen Aktionsradius gewesen, trotzdem sei es zweifelhaft, ob sie den Kontakt bis heute gehalten hätten.
Während man noch darum rang, zu einer endgültigen Aussage zu kommen, ob und wie sehr die beiden in Verbindung gestanden hatten, warf Sotiropoulos die zweite spitze Bemerkung in die Runde: War es ein Zufall, daß beide auf die gleiche Art und Weise Selbstmord begingen? Und wenn nicht, was konnte sich dann hinter dem Doppelselbstmord verbergen?
In solchen Momenten wird mir klar, wie wirkungsvoll Sotiropoulos’ Attacken sein können, auch wenn sie mir oft an die Nieren gehen. Die anwesenden Diskussionsteilnehmer verloren die Fassung, begannen herumzustottern, suchten nach einer überzeugenden Antwort, doch Sotiropoulos ließ
Weitere Kostenlose Bücher