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sie aufgeregt. »Laß sie ruhig, sie hat einen Ersatz für mich gefunden, mit dem sie sich beschäftigen kann, und ist rundum glücklich.« Dann spricht sie mich auf Stefanakos’ Selbstmord an.
»Laß lieber«, meine ich. »Die hohen Chargen sind unruhig geworden, und ich fürchte, wir werden bald ganz schön im Schlamassel stecken. Derselben Meinung ist auch Gikas.«
»Du bist mit Gikas einer Meinung?« fragt sie baff.
»Ja.«
»Wenn du Gikas zustimmst, muß es ja wirklich ernst sein«, lacht sie und legt glucksend auf.
Die Sitze des Mirafiori sind feucht und klebrig. Ich beschließe, den Vassilissis-Sofias-Boulevard auf der Suche nach ein wenig Abkühlung noch ein Stück hochzufahren. Die Mousson-Straße entlang in Richtung Attiko Alsos sind die Temperaturen noch halbwegs erträglich. Doch nach der Hälfte der Protopapadaki-Straße spüre ich, wie der Sitz unter mir glüht, und auf dem Galatsiou-Boulevard fühlt es sich an, als wäre ich voll bekleidet in die Badewanne gestiegen.
Sissis wohnt in der Ekavi-Straße in Nea Philadelphia, einer engen kleinen Straße, deren Häuser von griechischen Flüchtlingen 1922 nach ihrer Vertreibung aus Kleinasien gebaut wurden und seither unverändert geblieben sind. Nur drei Querstraßen unterhalb des Dekelias-Boulevards mit seinen Banken, Computerfirmen und Mobilfunkläden sieht man plötzlich Eleftherios Venizelos bei einer Wahlrede in den zwanziger Jahren vor sich. Die Häuschen haben kleine Vorhöfe, voll mit Geranien, Begonien, Nelken und Jasmin in Metallfäßchen oder Olivenölkanistern, und eine Außentreppe, die in den ersten Stock führt. Es muß Sissis’ Elternhaus sein, denn als es soweit war und er die Rente eines Widerstandskämpfers zugesprochen erhielt, zog er sich hierher zurück. In Nea Philadelphia war er, selbst für die Polizisten, die ihn regelmäßig festgenommen hatten, ein Mythos geworden. Mit den Jahren jedoch wurde er mehr und mehr zum Einsiedler. Diejenigen, die ihn noch kannten, starben weg, und die Jüngeren hatten nie von diesem seltsamen Alten gehört, den sie zum Laden gehen sahen, wo er ein halbes Pfund Schafskäse, hundert Gramm Oliven, zwei Karotten und ein Päckchen Bohnen oder Linsen kaufte. Davon ernährte er sich täglich, nur zu Ostern bereitete er Zicklein mit Kartoffeln im Ofen zu. Unverzichtbar waren ihm nur Kaffee und Zigaretten.
Ich finde ihn in T-Shirt, Shorts und Badelatschen vor, als er gerade seine Blumentöpfe wässert. Er hat mich zwar näher kommen sehen, jedoch keine Miene verzogen. So empfängt er mich immer, um mir zu zeigen, daß mein Besuch ihm lästig ist. Er spritzt den Hof naß, dreht den Wasserhahn zu, und erst nachdem er den Schlauch aufgerollt hat, würdigt er mich eines Blickes.
»Möchtest du Kaffee?«
»Einen süßen Mokka würde ich sehr gerne trinken.«
Das ist nicht nur so dahergesagt, sondern aufrichtige Begeisterung. Er ist einer der Letzten in Athen, die den Kaffee noch im Schnabelkännchen, tief in die Asche gedrückt, auf der Kohlenglut zubereiten.
In seinem Gefolge steige ich die Außentreppe hinauf. Zwei Dinge sind beeindruckend, wenn man Sissis’ Haus betritt. Das eine ist sichtbar, das andere unsichtbar. Sichtbar ist seine riesige Bibliothek, die alle Zimmerwände bedeckt. Unsichtbar ist sein Archiv, das er über alle Personen des öffentlichen Lebens in Griechenland angelegt hat. Von Zeit zu Zeit läßt er sich herbei, mir einige Hinweise aus seinem Archiv zu geben, aber gezeigt hat er es mir noch nie. Auf meine verwunderte Frage hin, wozu er all dieses Material zusammentrage, entgegnete er, wahrscheinlich tue er es aus Trotz. Der Staat habe ein Leben lang Akten über ihn angelegt, so daß er nun umgekehrt auf seine Weise Daten zu allen bekannten Persönlichkeiten archiviere, um endlich ein Gleichgewicht herzustellen.
Er tritt mit einem alten Emailtablett herein und stellt den Kaffee zusammen mit einem Tellerchen in Sirup eingelegter Früchte auf den Tisch.
»Seit wann kaufst du denn eingemachte Früchte?« frage ich ihn überrascht.
»Die hat mir Frau Andromachi, meine Nachbarin, rübergebracht. Jedesmal, wenn sie Früchte in Sirup zubereitet, läßt mir die Gute ein Glas zukommen.«
Wortlos trinken wir unseren Kaffee. Sissis, weil er stets abwartet, bis ich das Gespräch beginne, und ich, weil ich zuerst den Kaffee genießen möchte. Er hat nur die Tür offengelassen, die Fenster sind alle geschlossen, und die Wohnung dampft. Ich ziehe mein Taschentuch heraus und wische mir damit
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