Live
das ihr Doppelkinn wie einen Kropf hochzog und als schlaffes Tuch aus Haut um ihre Kehle flattern ließ.
David erwiderte das Lächeln und hoffte, das sie es heute abend dabei bewenden ließe. Er hatte nicht die geringste Lust, sich heute über die große Hitzewelle von ´55 zu unterhalten…
…da hat der Asphalt BLASEN geworfen, das können sie mir glauben, junger Mann. Dagegen ist das da draußen nur eine milde Frühlingsbrise…
…oder darüber, wie ihr Mann in Korea gekämpft hatte, zweimal mit dem Silver Star ausgezeichnet worden war und einmal mit dem Purple Heart, um diese armen, notleidenden Menschen zu beschützen. NEUE WELTORDNUNG, junger Mann? Mein Mann Jerry - Gott sei seiner Seele gnädig - hat schon 1953 für diese Ordnung gekämpft, jawoll, denn irgend jemand muß sich ja um diese Welt kümmern, und wenn es nicht wir Amerikaner sind, wer denn dann? Die Russen vielleicht. Oder die Japse? Oder die Ölaugen? Und den Deutschen - den traue ich bis heute noch nicht. Wette, die warten nur darauf, daß ein neuer Hitler an die Macht kommt. Hätten die Mauer stehen lassen sollen. Haben sie es denn nicht in der Post gelesen? Die bringen schon wieder arme Ausländer um.
Bei diesem Satz würde Mrs. Holdstedt ihn dann immer mitleidig ansehen. Schließlich war David auch nur ein armer Ausländer , der gottverdammt froh sein konnte, daß er in den Vereinigten Staaten aufgenommen worden war, besonders nach den schlimmen Ereignissen… Sie wissen schon, damals .
Mrs. Holdstedt würde niemals näher darauf eingehen, aber immer wenn sie davon sprach, gab sie David einen Blick, der zu gleichen Teilen voller Mitleid und Mißtrauen war. David sagte darauf nie etwas und nickte nur.
Aber heute blieb Mrs. Holdstedt ruhig. Vielleicht warte sie darauf, daß David die Unterhaltung anfangen würde, mit einer unverbindlichen Bemerkung über das Wetter vielleicht. Aber er sagte nichts, schaute sich nur die Artikel an, die auf seiner Theke waren und fing an, die Preise in seine Kasse einzutippen.
Er holte eine braune Papiertüte aus der Schublade unter der Kasse hervor und packte die Sachen hinein, schob dann die Tüte herüber und schaute zur Kasse.
„Das macht 15 Dollar und 33 Cents, Mrs. Holdstedt.“
Sie holte das Geld heraus aus ihrer Handtasche. Sechs Eindollar Scheine und ein 10 Dollar Schein. David verstaute die Dollars in der Kasse und gab ihr das Wechselgeld. Sie nickte höflich, vielleicht ein wenig enttäuscht darüber, daß es heute abend nicht zu einem Gespräch gekommen war, drückte ihren Pudel noch fester an die dicken Brüste und wackelte aus dem Laden, den hechelnden Hund auf dem einen, die braune Papiertüte auf dem anderen Arm.
Die Ladenglocke klingelte, als sie nach draußen auf die University Street trat. Ein Schwall heißer, trockener Luft kam herein, die nach abgestanden Autoabgasen roch, nach dem Gestank, der aus der Kanalisation heraufstieg und verfaulenden Abfällen. David wischte sich einen dicken Schweißtropfen aus den Augenbrauen. Schaute sich die Innenflächen seiner Hände an, die mit Feuchtigkeit bedeckt waren und wischte sie mit einem angewiderten Gesichtsausdruck an seiner Schürze ab.
Wenn es doch bloß nicht so heiß wäre.
23:46
Das 13te Revier der New Yorker Polizei war nicht mehr ganz so überfüllt wie noch am frühen Abend. Die meisten der Schreibtische waren geräumt worden, nur ein kleiner Teil der Nachtschicht war noch hier – Streifenpolizisten, die gerade von der Straße hereinkamen, mit müde und verquollen aussehenden Augen und Zuckerränder an den Lippen, manchmal sogar noch den letzten Resten eines Donut, der sich in einem Schnäuzer verfangen hatte und dort vergessen worden war
Ein paar Detektive, die eine zusätzliche Schicht einlegten und sich die Augen rieben, während sie zum achtzehnten oder neunzehnten Mal dieselbe Akte eines Verdächtigen überflogen, Aussagen überprüften und Verhörprotokolle auf Widersprüche untersuchten. Manchmal stöhnten sie durch zusammengepreßte Lippen auf, schlossen die Augen und überlegten sich, ob sie nicht doch nach Hause gehen sollten. Es würde einen neuen Tag geben und vielleicht würden sie dann etwas bemerken, etwas, das ihnen bis jetzt immer entgangen war. Ein Hinweis, ein kleiner Widerspruch.
Irgendwas.
Aber der Moment der Müdigkeit verflog wieder, und sie nahmen sich einen Schluck erkalteten Kaffee aus einem weißen Polystyrolbecher, der
Weitere Kostenlose Bücher