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Lob der Faulheit

Lob der Faulheit

Titel: Lob der Faulheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Hohensee
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radikalen politischen Auffassungen entlassen wurde. Da er keine Lust hatte, seine Meinung zu ändern, zog er 1932 zusammen mit seiner Frau Helen auf eine Farm in Vermont und wurde Selbstversorger. Mit dem Erlös aus dem Verkauf von Ahornsirup kauften sie sich, was sie selbst nicht herstellen konnten. 20 Jahre später, als die Gegend vom Skitourismus erschlossen wurde und Scott sich davon gestört fühlte, zogen sie nach Maine und bauten dort ein zweites Mal eine Farm auf. Sie diente ihnen über 30 Jahre lang als Lebensgrundlage. Im Alter von 100 Jahren starb Scott. Helen, 20 Jahre jünger als er, führte die Farm weiter und starb im Alter von 90 Jahren.
     
    Der Lebensweg von Helen und Scott Nearing ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Als sie ihre erste Farm aufbauten, nahmen sie sich vor, täglich vier Stunden, wöchentlich sechs Tage und jährlich sechs Monate zu arbeiten. Die restliche Zeit
sollten dem Reisen, Schreiben, Lesen und Zusammensein mit Freunden vorbehalten bleiben. An diesen Entschluss hielten sie sich. Von Disziplin keine Spur! Sie machten genau das, was sie wollten. Kein äußerer oder innerer Zwang trieb sie an. Vielmehr liebten sie ihren Lebensstil über alles. Arbeitseifer war ihnen fremd, ebenso Arbeitssucht. Sie gingen ihren zahlreichen Interessen nach. Leben und Arbeit waren ihnen keine Gegensätze. Die viel später propagierte Work-Life-Balance hatten sie bereits verwirklicht. Geistige und körperliche Tätigkeiten wechselten einander ab.
     
    Im Laufe von 50 Jahren bauten sie drei Steinhäuser. Das geschah nebenbei, indem sie jeden Tag von ihren Spaziergängen ein paar Steine mitbrachten und nach und nach daraus Gebäude errichteten. Zeit spielte bei ihnen keine Rolle. Sie hatten es nicht eilig. Es entstanden sehr schöne Häuser, keine primitiven Selbstbauten.

     
    Man stelle sich das vor: in zwei Stunden pro Woche – die Nearings waren sechs Monate im Jahr mit anderen Dingen beschäftigt und ließen sonntags die Arbeit liegen – bauten zwei alte Leute – Scott war 50, als sie nach Vermont zogen, und 70, als sie in Maine neu begannen – drei Häuser. Sie produzierten Ahornsirup und versorgten sich selbst mit Gemüse aus dem Garten. Ohne andere auszubeuten, ohne jeden Bankkredit und ohne die Natur zu zerstören! Außerdem schrieben sie mehrere Bücher und bereisten die Welt.
     
    Die Nearings haben den Beweis erbracht, dass positives Faulsein harter, sinnloser Arbeit weit überlegen ist. Als ich ihre Bücher las, wurde mir klar, dass etwas nicht stimmen kann, wenn
Menschen mehr als 40 Stunden in der Woche arbeiten, nur vier bis sechs Wochen Urlaub machen und trotz all ihrer Anstrengungen bestenfalls ein Haus kaufen können, das sie bis an ihr Lebensende abbezahlen müssen, weil die Zinsen für ihre Bankkredite so teuer sind wie ein zweites Haus.
     
    Ich will damit nicht sagen, dass jeder so leben sollte wie die Nearings. Aber wenn mich jemand fragt: Was würde passieren, wenn wir alle faul wären?, fallen mir die beiden ein. Weltweit leben heute bereits etliche so vorbildlich faul, ohne Disziplin und Willensstärke. Sie gehen ihren Interessen nach, verdienen ihr Geld mit ihren Lieblingsbeschäftigungen und sind die ganze Zeit positiv motiviert.
     
    Diese Art Faulsein könnte ein wegweisendes Modell für alle sein.

    Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin
    Den japanischen Künstler und Friedensaktivisten Kazuaki Tanahashi habe ich Ihnen am Anfang des Buchs mit einem Zitat vorgestellt: »To be thoroughly lazy is a tough job, but somebody has to do it. Industrious people build industry. Lazy people build civilization.« Es ist eine großartige Aussage und enthält ein intelligentes Wortspiel. »Industrie« leitet sich vom lateinischen »industria« ab, was soviel wie Fleiß, Betriebsamkeit bedeutet. Deshalb könnte man Tanahashis Ausspruch so übersetzen: »Völlig faul zu sein, ist ein harter Job, aber jemand muss ihn erledigen. Betriebsame Menschen schaffen Betriebe. Faule Menschen schaffen Kultur.«
     
    Tanahashi hat das Projekt »Eine Welt ohne Armeen« gegründet, nachdem er gehört hatte, dass der Präsident Rodrigo Carazo 1949 in Costa Rica die Streitkräfte abgeschafft und die frei gewordenen Mittel in Krankenhäuser und Schulen investiert hatte. Als Jugendlicher nahm Tanahashi Unterricht bei Morihei Ueshiba, dem legendären Begründer des Aikido. Dieser hatte erst die japanischen Kampfkünste gelernt, sich dann aber von der kriegerischen Tradition befreit,

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