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Lobgesang auf Leibowitz

Lobgesang auf Leibowitz

Titel: Lobgesang auf Leibowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter M. jr. Miller
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»Denkwürdigkeiten« eher die »Unergründlichkeiten« genannt werden könnte. Sie waren in der Tat hochgeschätzte Bruchstücke einer vergangenen Kultur – aber wieviel davon war in Kauderwelsch verwandelt worden, mit Olivenzweigen und Cherubim durch vierzig Generationen von Ignoranten verziert, Kindern vieler finsterer Epochen, denen von Erwachsenen eine unverständliche Botschaft anvertraut worden war, um sie auswendig zu lernen und anderen Erwachsenen zu übermitteln.
    Ich habe ihn dazugebracht, den langen Weg von Texarkana durch gefahrvolle Landstriche bis hierher zu machen, dachte Dom Paulo. Ich sorge mich jetzt einfach, daß das, was wir anzubieten haben, sich als wertlos für ihn erweisen dürfte. Das ist es.
    Aber nein, das war nicht alles… Er blickte wieder zum heiteren Heiligen hinüber. Und wieder: Vexilla regis inferni prodeunt… Vorwärts schwanken die Banner des Fürsten der Hölle, flüsterte die Erinnerung an diesen entstellten Vers einer altertümlichen commedia. Er ging ihm wie eine unerwünschte Melodie im Kopf herum.
    Die Faust preßte sich fester zusammen. Er ließ den Wedel fallen und zog den Atem durch die Zähne ein. Er hütete sich, den Heiligen noch einmal anzuschauen. Aus dem Hinterhalt heraus führte der erbarmungslose Engel einen flammenden Schlag bis in das Innerste seines Körpers. Er stützte sich auf das Pult. Der Schlag hatte sich wie das Bersten eines überhitzten Steines angefühlt. Sein schwerer Atem blies einen freien Fleck in die Schicht von Wüstenstaub auf dem Pultdeckel. Der Geruch des Staubs machte ihn würgen. Das Zimmer füllte sich mit rötlichem Schein, in dem schwarze Mücken umherschwärmten. Ich wage nicht aufzustoßen; etwas könnte losgerissen werden – aber Heiliger, Schutzheiliger, ich kann nicht anders. Der Schmerz. Ergo sum. Herre Christ Gott, nimm dies zum Zeichen.
    Er stieß auf, schmeckte Salz und ließ den Kopf auf das Pult sinken.
    Muß der Kelch gleich, jetzt in dieser Minute getrunken sein, Herr, oder kann ich noch eine Weile warten? Aber die Kreuzigung geschieht immer jetzt im Augenblick. Seit jeher, selbst vor Abrahamas Zeiten, war jetzt immer jetzt. Selbst vor Pfardentrott, jetzt. Schon immer und auf jeden Fall wurde jeder daran festgenagelt, um daran herabzuhängen; und solltest du herunterfallen, wird man dich mit einer Schaufel erschlagen, also, Alter, laß es mit Würde über dich ergehen. Wenn du mit Würde aufstoßen kannst, darf st du in den Himmel, vorausgesetzt, du zeigst dich zerknirscht genug wegen des beschmutzten Teppichs… Er glaubte sich sehr entschuldigen zu müssen.
    Lange Zeit wartete er. Einige Mücken fielen herab, und das Zimmer verlor an Röte, wurde aber von einem grauen Schleier eingehüllt.
    Was ist, Paulo, werden wir jetzt endlich Blut erbrechen oder nur so tun als ob? Er versuchte den Schleier zu durchdringen und fand wieder das Gesicht des Heiligen. Es war so ein kaum merkliches Lächeln, traurig, klug und noch etwas. Lachte es über den Henker? Nein, es lachte für denHenker. Es machte sich über den Stultus Maximus lustig, über Satan selbst. Zum erstenmal hatte er es deutlich gesehen. Der letzte Kelch konnte ein leises Lachen des Sieges enthalten. Haec commixtio…
    Er war plötzlich sehr müde. Das Gesicht des Heiligen verschwamm im Grau, aber der Abt fuhr fort, das Grinsen schwach zu erwidern.
     
     
    Kurz vor der None fand ihn Prior Gault zusammengesunken über dem Pult. Blut stand zwischen den Zähnen. Der junge Priester fühlte rasch den Puls. Im Nu erwachte Dom Paulo, richtete sich in seinem Stuhl auf und tönte gebieterisch, noch wie im Traum befangen: »Und ich sage dir, alles ist höchst lächerlich. Vollkommen blödsinnig. Nichts könnte sinnloser sein.«
    »Was ist sinnlos, Herr?«
    Der Abt schüttelte den Kopf und zwinkerte mehrmals. »Wie?«
    »Ich hole sofort Bruder Andrew.«
    »Was? Das ist jetzt sinnlos. Komm hierher zurück. Was wolltest du?«
    »Nichts, Vater Abt. Ich bin gleich wieder hier mit Bruder…«
    »Ach, zum Kuckuck mit dem Arzt! Du bist nicht ohne Grund gekommen. Meine Tür war geschlossen. Mach sie wieder zu, setz dich her und sag mir, was du wolltest.«
    »Die Erprobung war erfolgreich. Bruder Kornhoers Lampe meine ich.«
    »Na gut, laß hören. Setz dich, erzähle! Ich will alles darüber hören!« Er brachte sein Habit in Ordnung und wischte sich mit einem Stück Leintuch über den Mund. Er war immer noch benommen, aber die Faust in seinem Bauch hatte ihren Griff gelöst. Der

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