Lobgesang
einfordert.«
Er ist blind , erkannte sie. Und doch kennt er mein Heim besser als ich. »Wer seid Ihr?«, fragte sie noch einmal.
»Man nennt mich Ezra«, erwiderte er. »Ich war zur Zeit Eures Vaters der Hüter des Buches und zur Zeit seines Vaters. Ehe meine Augen mich im Stich ließen und mir eine neue Sicht geschenkt wurde.«
Winters musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen, aber es war gar nicht möglich, dass sie ihn erkannte. In ihrer Zeit hatte Tertius diese Aufgabe erfüllt, und nachdem er gestorben war, hatte sie sich entschlossen, keinen neuen Hüter zu erwählen. Die Träume von der Heimat hatten sie mit neuer Heftigkeit ereilt, und ihre Dringlichkeit hatte sie davon überzeugt, dass sie keinen Hüter brauchen würde. Der Rat der Älteren hatte zugestimmt. Winters spürte, wie sie die Kiefer aufeinanderpresste. Sie schluckte, um sich zu entspannen. »Weshalb seid Ihr hier?«
Der alte Mann lächelte. »Ich bin gekommen, um eine Nachricht zu überbringen, die Euch Trost und Sicherheit geben wird. Diese scheinbar dunklen Zeiten, die Euch so sehr schmerzen, sind in Wahrheit nur Geburtswehen. Wenn sie vorüber sind, werdet Ihr Euren gebührenden Platz einnehmen. Ein Neues Zeitalter steht uns bevor.«
Winters spürte Ärger in sich aufwallen. »Ich will Euren Trost
und Eure Sicherheit nicht. Ich will, dass Ihr aufhört, in whymerischen Kreisen zu reden, und klare Worte sprecht.«
Der alte Mann lächelte. »Ihr habt etwas von Eurem Vater an Euch«, sagte er. Er lachte leise. »Nun gut. Ich werde klare Worte sprechen. Die Kinder des P’Andro Whym bezahlen nun für die Sünden ihrer Väter. Ihre Stadt gibt es nicht mehr, und die Verheerung von Windwir verändert alles.«
Winters spürte, wie ihr Blick sich verengte. »Erklärt Euch.« Eine plötzliche Kälte erfasste sie, und Winters kauerte sich tiefer ins Wasser, wobei sie einen Blick auf den Gang warf, der zu ihren Schlafgemächern und dem Thronraum darüber führte.
»Ihr habt davon gelesen – und sogar davon geträumt –, Eure Heimat zu finden«, sagte der alte Mann, und seine Stimme wurde leiser. »Aber das Buch stammt aus einer Zeit des Kummers. Man hatte uns diese Lande geschenkt – die ganzen Lande –, um sie mit den Zigeunern zu teilen. Ihr wisst, dass das wahr ist. Man hat sie uns weggenommen. Und seit jener Zeit haben uns die grauen Talare und ihre Wachwölfe stets zahm und zahnlos gehalten, während sie ihre sogenannten Evangelien des Whym verwirklicht haben, jenen großen Göttermord.« Sie hörte die Bitterkeit in seiner Stimme, als er das Wort »Göttermord« ausspuckte, und Winters erschauerte abermals, trotz des heißen Wassers, das sie umfing. »Jetzt ist es an der Zeit für ein neues Evangelium. Jetzt ist es an der Zeit für die Wahrheit: Es gibt keine Heimat, die wir finden könnten, aber es gibt eine, die wir uns nehmen können.«
Keine Heimat, die gefunden werden konnte? Die Falschheit dieser Worte überwältigte sie. »Ihr sprecht Lügen«, erwiderte Winters. »Ich habe unsere Heimat gesehen. Und die Ankunft des Heimatsuchers steht kurz bevor. Ich habe ihn getroffen.« Ich habe seinen Mund gekostet , dachte sie. Ich habe die Verletzungen in seiner Seele gesehen und seinen Herzschlag auf meiner Haut gespürt.
Ezra schüttelte den Kopf. »Nein. Vielleicht war das einmal unsere Heimat, aber nun ist eine neue heraufgezogen. Ich spreche
die Wahrheit. Ihr wisst es. Die Träume haben sich verändert, und diese Träume verändern die Richtung des Buches der Träumenden Könige. Habt Ihr nicht das Licht gesehen – die Hitze gespürt –, als es verzehrt wurde?«
So war es, und die Erinnerung daran suchte sie noch immer heim. Aber sie sagte nichts.
Ezra fuhr fort. »Es gibt keine Heimat, die wir finden könnten«, sagte er wieder, »aber es gibt eine, die wir uns nehmen können.«
Nehmen? Winters spürte, wie ihr Magen rebellierte. Er hatte es schon einmal gesagt, aber es war nicht zu ihr durchgedrungen. Plötzlich sah sie Hanrics kalten, toten Körper nackt und sauber geschrubbt vor sich, auf dem verschneiten Boden des Irrgartens des Zigeunerkönigs ausgestreckt. Sie sah die Sumpfspäher, die im Tod erstarrt waren, von ihren Blutmagifizienten gefällt, mit den rötlich leuchtenden Zeichen des Hauses Y’Zir auf der Haut. Sie spürte, wie die Wahrheit heraufdämmerte, und sie schmeckte in ihrem Mund nach kaltem Eisen. Als sie sprach, klang ihre Stimme ängstlicher und verschüchterter, als sie es sich wünschte. »Wovon sprecht
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