Lobgesang
schmutzigem Eis. Sie sah einen Himmel, in dem es keine Vögel gab, schiefergrau und bedrohlich
vor einem heraufziehenden Sturm. All das konnte sie hinnehmen, sich durch die Rätsel arbeiten, die diese Botschaft des Himmels ihr stellte. Aber nirgends hatte sie den Jungen mit den schneeweißen Haaren gesehen, dem ihr Herz gehörte. Es war, als wäre er von den Ödlanden verschluckt worden, und sie erinnerte sich mit einem Schaudern an die Warnungen vor Renard.
Sie rollte sich zur Seite und schwamm ins seichtere Wasser am anderen Ende der Höhle, wo sie auf dem schlüpfrigen Steinboden stehen konnte. Sie richtete sich im Wasser auf, das ihr nun bis zur Hüfte ging, seifte sich ein und dachte weiterhin an den Jungen, während sie mit der Hand über ihren Körper strich und sanft den Schlamm und die Asche von gestern abwusch.
Sie wünschte, es wäre Nebs Hand, die sie hier und dort berührte, sanft und warm und schlüpfrig von der Seife. Aber das waren törichte Gedanken, und in diesen dunklen Zeiten fiel darunter auch die Liebe und alles, was ihr nahekam. Seufzend tauchte sie noch einmal ganz unter, und als sie wieder herauskam, seifte sie ihr verheddertes Haar ein, zog die Holz- und Knochenstücke aus den langen, feuchten Strähnen.
Sie hörte, wie sich in den Schatten jemand räusperte. Winters wirbelte herum und ließ die Seife fallen, als sie in einem Reflex die Hände nach oben riss, um ihre Brüste zu bedecken. »Wer ist da?«
»Vergebt mir mein Eindringen, Winteria die Jüngere, Tochter von Mardic«, sprach eine heisere Stimme. Eine Gestalt bewegte sich – torkelte vielmehr – durch die Finsternis der entferntesten Stelle der Höhle, jenseits des trüben Lampenlichts.
Winteria die Jüngere?
Das hatte sie noch nie gehört. »Dies ist meine private Badehöhle«, sagte Winters und zwang ein wenig Autorität in ihre Stimme. »Ich glaube kaum, dass Euch meine Wachen Eintritt gewährt haben.«
Die Stimme lachte leise. »In diesen Bergtiefen gibt es mehr Gänge, als selbst Ihr Euch vorstellen könnt.«
In ihrem Magen machte sich Angst breit, und sie ließ sich tiefer ins Wasser sinken, bewegte sich rückwärts, während sie weiterhin in die Richtung starrte, aus der die unerwartete Stimme kam. »Wer immer Ihr seid, Ihr erkennt sicher, wie unangemessen Euer Eindringen ist?«
Die Welt außerhalb mochte der Ansicht sein, dass der Schmutz und die Asche der Sümpfler auf den Irrsinn hinwiesen, der ihnen im Blut lag, aber die Wahrheit war weit davon entfernt. Mindestens einmal in der Woche badeten sie und wuschen die Schicht aus Dreck ab, trugen frischen Schlamm und Asche auf, knüpften sich sorgfältig Knochen und Holz ins Haar, und jede Handvoll Schmutz und jeder geflochtene Zopf waren ein Gebet an die Heimat. Abgesehen vom Todesschlaf, wenn Familie und Freunde den Gefallenen sauber schrubbten, ehe sie den Körper ein letztes Mal in Erde und Asche kleideten, war es unerhört, jemanden zu sehen oder gesehen zu werden, wenn die Haut bloßlag und nicht durch dieses Symbol ihres kummervollen Daseins geschützt war.
»Ich kann Euch nicht sehen. Dessen versichere ich Euch. Ich kann der Förmlichkeit keinen Abbruch tun.« Die Gestalt kam näher, und Winters zog sich weiter zurück, kauerte sich ins seichte Wasser, während ihre Hände nach einem Stein wühlten.
Es ließ sich keiner finden.
Ich könnte die Wächter rufen , dachte sie. Aber sie hatte ihnen nicht mitgeteilt, dass sie baden würde. Sie waren am Eingang ihrer Höhle aufgestellt, und dorthin war es ein Weg von mehr als einer halben Meile durch gewundene Steingänge. Sie würden sie nicht hören.
»Halt!«, sagte sie.
Aber die Gestalt wankte näher, bis Winters einen alten Mann mit wirrem Bart und langem Haar erkennen konnte. Zunächst ließ ihn der Schmutz wie einen der Ihren aussehen, aber dann
fiel ihr schnell auf, dass er ähnlich, aber doch anders war. Der ehemals weiße Bart war von unterschiedlichen Erdtönen durchzogen und auf eine Art geflochten, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Und die Zeichen auf seinem Gesicht waren deutlicher, stellten Symbole aus tiefem Braun, Schiefergrau und Schwarz dar, die wie ein Mosaik ineinander übergingen. Seine Augen hatten die Farbe von Milch, und als seine mit Sandalen bekleideten Füße den Rand des Wassers erreichten, hielt er an. Er wandte sich ihr zu, blickte sie jedoch nicht unmittelbar an.
»Ein neues Zeitalter wird geboren«, erklärte er, »und es ist an der Zeit, dass unser Volk sein Erbe
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