Lobgesang
Seite stand. Charles hatte sich zumindest während der ersten beiden Tage kräftig dafür ins Zeug gelegt. Aber letztendlich hatte ihm Rudolfo mitgeteilt – schärfer, als er beabsichtigt hatte –, dass die verborgene Bibliothek wohl noch ein wenig länger verborgen bleiben musste, bis man sich um diese aktuelle Angelegenheit gekümmert hatte. Der alte Erzmaschinist hatte zunächst mürrisch reagiert, aber mit der Zeit hatte er eingesehen, dass es klug war, erst herauszufinden, wer mittlerweile Tams von den Androfranzinern entwickelte Flotte befehligte und welche Pläne dieser Jemand mit den Eisenschiffen und den Leuten hatte, die sie als Gefangene abtransportierten.
Er hörte ein leises Klopfen und drehte sich um. »Herein.«
Die Tür öffnete sich, und Charles spähte in die Kajüte. »Sie sind zurück. Wir treffen uns in der Kombüse.«
»Danke Euch, Charles. Ich werde gleich zu Euch kommen.«
Mit einem Nicken zog der alte Mann die Tür wieder zu, und Rudolfo schnappte sich seinen grünen Amtsturban. Er wickelte ihn sich um den Kopf und befestigte ihn mit der Spange, die ihm seine Mutter geschenkt hatte, als er noch ein Junge gewesen war. Dann band er sich seine karmesinrote Schärpe um die Hüften und legte den Gürtel mit seinen Spähermessern an.
Als Rudolfo die Kombüse betrat, sah er Rafe Merrique und Charles, aber sonst niemanden. Natürlich waren die Späher, die frisch aus dem Dschungel kamen, noch immer magifiziert. Er konnte die Stellen sehen, an denen die Stühle unter dem Tisch herausgezogen waren, und von Zeit zu Zeit erhob sich ein Krug wie aus eigenem Antrieb.
Er nahm am Kopf des Tisches Platz, gegenüber von Rafe. »Was haben wir herausgefunden?«
Rafes Erster Maat machte den Anfang, und Rudolfo wandte den Kopf in Richtung der körperlosen Stimme. Sie klang belegt, aber Rudolfo konnte nicht gleich erkennen, weshalb. »Die Insel ist unbewohnt bis auf das Gebäude und die Anlegestellen. Sie haben eine kleine Garnison Soldaten – vielleicht hundert, der Größe der Unterkünfte nach zu schließen. Sie sind gut bewaffnet, mit Bögen und Schwertern, aber nicht besonders aufmerksam auf Wache. Sie scheinen durchmischt zu sein – einige Sümpfler, einige mit Dialekten aus dem Delta und von den Smaragdküsten. Sie haben sich in einer gemeinsamen Zeichensprache unterhalten, die mir nicht bekannt war.«
Rudolfo nickte und griff nach der Karaffe, um an ihrem Inhalt zu riechen. Kirschwein war nicht gerade seine Lieblingssorte, aber besser als nichts. Er schenkte sich ein Glas ein. »Wie viele Schiffe?«
»Zwei Schoner von einer Bauart, die ich nicht kenne, und die zehn Tam-Schiffe. Im Moment ist keines davon magifiziert. Die Eisenschiffe liegen vor Anker, und ihre Maschinen sind aus. Sie patrouillieren mit den Schonern – einmal pro Stunde segelte einer vorbei –, eher eine symbolische Wache, was vermuten lässt, dass sie keine Besucher erwarten.«
Rafe nickte. »Sie sind weit genug in den Geisterkämmen, das wird die meisten fernhalten.«
Rudolfo hob das Glas an die Lippen und nippte an dem süßen, kühlen Wein. »Zigeuner, was habt ihr drinnen gesehen?«
Selbst sein Zigeunerspäher wirkte zurückhaltend, irgendwie bedrückt. »Man kann hineingelangen, General Rudolfo, von mindestens drei unbewachten Stellen aus. Zwei Fenster und eine Tür. Wir haben Karten von einem Arrestbereich im Erdgeschoss und zwei darüberliegenden Stockwerken angefertigt. Der dritte Stock und alles, was darüber liegt, wird, wie wir annehmen, strenger bewacht.«
Eine Pause entstand, und Rudolfo musste den Mann nicht
sehen, um zu wissen, dass ihm nicht wohl bei dem war, was er außerdem beobachtet hatte. »Was noch?«, fragte er.
»Es gibt Leitungen, die Flüssigkeiten vom oberen Stockwerk – dem Kuppelbau – in ein Kellergewölbe transportieren, das wir nicht erreichen konnten. Wir glauben, dass sie Anatomen einsetzen. «
Anatomen . Rudolfo schnappte bei dem Wort nach Luft. »Weshalb glaubt ihr, dass sie schneiden?«
Nun meldete sich der Erste Maat zu Wort. »Wegen der Leichen, Herr.«
Der Zigeunerspäher fuhr fort. »Sie haben ihre Toten in Massengräbern begraben. Wie in Windwir. Wir schätzen, dass es fast tausend sind, und die Gefängniszellen unten sind zum Bersten gefüllt.«
Rudolfo strich sich nachdenklich über den Bart. »Aber woher sollten sie …« Er verstummte, als ihm die Antwort klar wurde. Das Haus Li Tam hatte seine Flotte verloren und lag jetzt unter dem Messer. Aber er zweifelte stark
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