Lobgesang
eingehüllt in das purpurne Licht der untergehenden Sonne, erhoben sich Glasberge wie Meereswogen.
Neb streckte sich, und als er sich umsah, fiel ihm auf, wie vertraut dieser Anblick erschien. Ich bin schon einmal hier gewesen. Das war allerdings vollkommen unmöglich. Aber selbst der trockene Geruch nach pulverisierten Knochen brachte eine tiefsitzende Erinnerung in ihm zum Klingen. »Wo sind wir?«, fragte er schließlich, aber der Metallmann beachtete ihn nicht. Stattdessen legte er sich flach auf den Bauch und presste sein Ohr auf den Boden. Dann überraschte er Neb durch das, was er als Nächstes tat:
Der Metallmann seufzte, und es klang wie ein Seufzer der Zufriedenheit. »Hier ist es«, flüsterte er, und seine Stimme ließ auf Nebs Hals und Armen eine Gänsehaut entstehen. »Lausche, Nebios.«
Neb blickte sich wieder um, dann neigte er den Kopf Richtung Boden. Ganz schwach hörte er das Lied. Er ging näher heran; es war leise und blechern, und Neb erkannte, dass er es nicht so sehr mit den Ohren hörte, sondern vielmehr fühlte. Eine hauchzarte Schwingung. Es zog ihn noch einen Schritt näher, und er kniete sich hin.
Es war ein klagender Klang, und es kam von unterhalb der Metallplatte. »Was ist das? Woher kenne ich diesen Ort?«
Die Augenschließen des Metallmanns klappten auf. »Dies ist die Quelle des Traums.«
Des Traums. Neb erinnerte sich. Als sein Vater in seinen Träumen aufgetaucht war, hatte er die Metallmänner gesehen, die in
Talare gekleidet an einer Ausgrabung arbeiteten. Er war nun an diesem Ort. Sie hatten diesen Ort tatsächlich gefunden. »Die Quelle des Traums ist ein Lied?«
»Der Traum ist in dem Lied verschlüsselt. Das Lied ist die Verbindung. Lausche.«
Neb streckte sich aus und drückte ein Ohr auf das kalte Metall. Er konnte es hören, nach wie vor weit entfernt, aber er konnte jede einzelne Note erkennen. Er erinnerte sich an das Lied und verband diese Erinnerung mit einer Harfe – nur war es damals zu schnell gespielt worden, und überall waren Feuer und Rauch und …
»Winters’ Traum!«, sagte er. »Ich kenne es aus ihrem Traum.« Und er kannte auch diesen Ort aus einem Traum. Weitere undeutliche Bilder von grabenden Metallmännern in Talaren stiegen in ihm auf.
Dampf zischte aus dem Entlüftungsrost des Metallmanns. »Es ist ›Ein Lobgesang auf den Gefallenen Mond in h-Moll‹ vom Letzten Zar Frederico, noch vor dem Zeitalter der Hexenkönige.«
»Bin ich ermächtigt, das zu wissen?« Neb ging davon aus, dass es so sein musste, sonst hätte der Metallmann diese Dinge nicht freimütig ausgesprochen.
»Du bist zu früh«, sagte der Metallmann, »aber du bist ermächtigt, Nebios Heimatsucher. Wir haben die Quelle während der Errichtung von Sanctorum Lux entdeckt. Wir haben die Schlösser geöffnet und eine genaue Untersuchung des Artefakts durchgeführt. Unter der Heiligen Salbung des päpstlichen Gesandten Hebda ist es für deine Ankunft neu versiegelt worden. Merke dir diesen Ort und behalte ihn gut im Gedächtnis; der Traum wartet hier auf dich. Zur festgesetzten Zeit wirst du ihn zu meinem Vetter bringen, und ihr werdet euch beide unserem Werk anschließen.« Er hielt inne, seine Mundklappe bewegte sich, und seine Augen blitzten. »Das Lied erzwingt eine Erwiderung. «
Nebs Gedanken wirbelten, und er zwang sie zur Ruhe. Päpstlicher Gesandter? Sein Vater war Archäologe gewesen; Neb hatte niemals gehört, dass er durch das Amt des Heiligen Stuhls ernannt worden wäre. Natürlich hatte er seinen Vater nicht regelmäßig getroffen. Der Mann hatte den Großteil seines Lebens in den Mahlenden Ödlanden verbracht, aber darauf bestanden, Neb im Waisenhaus zu besuchen, wann immer er zwischen seinen Expeditionen in Windwir war. War es möglich, dass sein Vater in einer Eigenschaft gedient hatte, von der Neb nichts gewusst hatte? Es schien offenbar der Fall zu sein.
Die weiteren Worte des Metallmanns wurden ihm bewusst. Das Lied erzwingt eine Erwiderung. Neb strengte seine Ohren an, um die Melodieführung des Liedes herauszuhören. Ja , dachte er. Das stimmt, aber wie hat er das herausgefunden?
Er hörte das Klicken und Klacken, das Geräusch von ächzendem Metall, als der Mechoservitor sich erhob. »Der Mond geht auf«, sagte der Metallmann. »Der Beginn deines Schlafzyklus steht kurz bevor, aber wir sind nahe an unserem Ziel. Bist du funktionstüchtig, um zu laufen?«
Neb nickte und kam auf die Beine. Das Lied hielt ihn fest, zwang ihn, zu bleiben und zu
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