Lobgesang
plötzlich der Angst bewusst wurde, die ihn bis ins Mark durchdrang. Doch es war nicht die Angst um sich selbst; es war Angst um seine Familie. Schon so viele waren gestorben, und das Wissen, dass in diesem Augenblick noch mehr starben, zerbrach die wenigen heilen Stücke, die noch von seiner Seele übrig waren.
Er sah den Blitz auf dem Flaggschiff nicht, doch er hörte das Krachen. Dann ein Pfeifen, das immer lauter wurde, bis die Welt in Hitze und Licht zerbarst, das ihn auf den Boden schleuderte. Von dem Fleck, auf dem er lag, erkannte er, dass der Kanonentreffer mitten in der Nachhut eingeschlagen und mehr als ein Drittel davon ausgelöscht hatte. Die Kinder kauerten sich auf den Boden.
»Halt!«, donnerte eine von Magifizienten verstärkte Stimme, und er kannte diese Stimme. Sie gehörte seinem Enkel, Mal Li Tam. »Es macht mir nichts aus, die Kinder zu töten, obwohl ich vorziehe, es nicht zu tun. Lasst die Frau frei.«
Rudolfo zögerte. »Tut es«, sagte Vlad Li Tam, und in seiner Stimme klang mehr Flehen an, als er beabsichtigt hatte. »Ich will meine Familie keiner weiteren Gefahr mehr aussetzen.«
Ria stolperte nach vorne, dann rappelte sie sich auf und schloss ihre Robe. Sie drehte sich zu Vlad Li Tam um und lächelte.
Mal Li Tams Stimme ertönte abermals: »Pfeift Euren Piraten zurück, Rudolfo, und gebt den Hafeneingang frei. Ria, bring Vlad Li Tam zu seinem Flaggschiff. Es scheint, unsere Pläne haben sich geändert.«
Vlad wandte sich an sie, überrascht von dem ruhigen Tonfall seiner Stimme. »Wenn ich mit dir komme, wirst du dann die anderen in Frieden lassen?«
Ria nickte. »Ja, Vlad«, sagte sie. »Du hast für die Sünden deiner Familie Vergeltung erkauft.« Ihr Lächeln wurde breiter, und
er sah Liebe aus ihren Augen leuchten. »Ich werde dir das Zeichen der Heimat schenken und dich zur Ruhe betten, denn dein Blut wurde gelöst und deine Sippe geheilt.«
Sie streckte die Hand nach ihm aus, und er wusste, dass es nichts Wichtigeres für ihn gab, als sie zu nehmen. »Ich werde dich sogar tragen, wenn es nötig ist«, sagte sie zu ihm.
»Ich werde selbst gehen«, erwiderte er. Ich werde meinen Schmerz zu einer Armee heranzüchten.
Unsicher kämpfte er sich auf die Füße und bebte dabei vor Anstrengung. Dann zwang er erst einen Fuß und dann den anderen vorwärts, während seine Familie ihm nachblickte. Ria ging neben ihm, und als sie das Flaggschiff erreichten, wartete sie, bis Vlad das Fallreep betreten hatte. Anschließend folgte sie ihm.
Mal Li Tam erwartete ihn oben, in Sichtweite seiner Kanoniere. Vlad ging zu ihm. »Wirst du dein Wort halten, Mal? Wirst du die anderen verschonen, im Austausch gegen mich?«
Mal neigte den Kopf. »Das werde ich, Großvater.«
»Dann geleite mich zur Reling, damit ich meine letzten Worte an sie richten kann.«
Mal Li Tam runzelte die Stirn. »Du wirst dich beeilen müssen. Wir legen ab.«
Ich werde meinen Schmerz zu einer Armee heranzüchten.
Vlad nahm den dargebotenen Arm des jungen Mannes und ging langsam zum Bug des Flaggschiffs. Er ließ den Blick über seine Söhne und Töchter und Enkel schweifen und fand Rae Li Tam. »Du wirst die Fürstin der Tam sein«, sagte er zu ihr.
Und dann, indem er jedes Quäntchen seiner verbliebenen Kraft zusammenraffte, schlang er die Arme um seinen ersten Enkel und riss ihn mit sich über die Reling. Er spürte einen dumpfen Schlag, als sein Gegner während des Falls gegen den Steg prallte, dann tauchten sie in das warme Hafenwasser ein. Der Schmerz des Salzes in seinen Wunden ließ einen Schrei in seiner Lunge anschwellen, den er nicht auszustoßen wagte, um nicht
alle Luft zu verlieren, während er seinen Enkel fest umklammert hielt. Seine Hände wanderten über den wild um sich schlagenden Körper, auf der Suche nach Mals Luftröhre. Er umschlang den jüngeren Mann mit den Beinen, saß nun auf seinem Rücken und erwürgte ihn, während sie sanken.
Vlad ließ das Meerwasser auf seiner in Fetzen hängenden Haut brennen, und mit dem Brennen wuchs sein Schmerz. Er züchtete seinen Schmerz zu einer Armee heran, und diese Armee schickte er nun aus, um Mal zu vernichten.
Und plötzlich war Vlad Li Tam nicht mehr allein im Wasser. Das Meerwasser um ihn herum erstrahlte in schimmerndem, blaugrünem Licht, das ihn umfing, und seine Ohren waren plötzlich von Gesang erfüllt. Er wurde von seiner reinen Macht und Schönheit überwältigt, und noch während er den Hals seines Enkels umklammert hielt, verspürte er
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