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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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hatte.
    Sie streichelte sanft den Hinterkopf ihres Kleinen, hielt ihn fest und wünschte sich, ihre Körperwärme könne die graue Blässe und Klammheit seiner Haut zurückdrängen.
    Was würde diese neue Liebe in ihr erwecken?
    Erschrocken merkte sie, dass die Flussfrau gerade etwas gesagt hatte, und blickte auf. »Entschuldigt bitte, Erdenmutter.«
    Die alte Frau lächelte, und ihre Augen lächelten mit. »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Er ist ein hübsches Kind, edle Dame Tam, und ihr seid eine hübsche Mutter.«
    Wieder kamen die Tränen, doch Jin unterdrückte sie, auch wenn es entsetzlich viel Kraft kostete. »Tretet für mich an dieses Mädchen heran und vereinbart ein Treffen am Vormittag«, sagte sie. »Sprecht mit Verwalterin Jessa und lasst sie im Familienflügel ein Zimmer für diese Frau vorbereiten. Wenn sie im Lager Verwandte hat, dann trefft auch Vorkehrungen für deren Unterbringung. «
    Die Flussfrau beugte den Kopf und erhob sich, dann legte sie den kleinen Beutel auf einen Tisch neben dem Bett. »Einen Tag einnehmen, dann einen Tag Pause«, sagte sie. »Nicht mehr.« Sie ging zur Tür und blieb noch einmal stehen. »Soll ich mit dem edlen Herrn Rudolfo sprechen?«
    Jin Li Tam schüttelte den Kopf. »Nein. Das werde ich tun.« Dies ist mein Kummer, und ich muss ihn ihm selbst überbringen.

    »Wie Ihr wollt, meine Dame.« Mit einer weiteren leichten Verbeugung ging die Flussfrau, und ihr Mädchen kehrte zurück.
    Als das Lehrmädchen kam, um das Kind zu holen, bat Jin Li Tam sie, noch kurz zu warten. Jakob war nun fertig mit dem Trinken, und sie bettete sein Köpfchen an ihre Schulter, schaukelte ihn sanft und klopfte ihm leicht auf den Rücken. Sie hielt ihn länger als nötig und wollte damit ihre Tränen vertreiben, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen.
    Meine Schwester Rae , dachte sie. Sie wird wissen, was zu tun ist. Als junger, männlicher Akolyth verkleidet hatte sie – durch Vermittlung ihres Vaters – als Mädchen die Alchemie der Androfranziner studiert und übte sie nun seit beinahe einem halben Jahrhundert aus. Aber ihre Schwester war zusammen mit ihren übrigen Geschwistern von der Bühne geflohen, die ihre Familie so lange Zeit mit sorgfältig platzierten Requisiten und geübten Illusionen bespielt hatte.
    Jin Li Tam reichte das Kind an das wartende Mädchen weiter und sank in ihr Bett zurück, aber als sie die Augen schloss, wollte der Schlaf nicht kommen.
    Stattdessen wanderte ihr Verstand unwillkürlich zu dem Traum, der so fern und doch so wirklich schien.
    »So sollen die Sünden des P’Andro Whym seine Kinder heimsuchen«, hatte der Bundrabe gesprochen. »Du bist gesegnet unter den Frauen, und hohe Gunst empfängt Jakob, der Hirte des Lichts.«
    Vielleicht habe ich ihm Unrecht getan. Vielleicht ist die Botschaft des Bundraben willkommener, als ich dachte. Sie ließ die Worte immer wieder an sich vorüberziehen.
    Seltsam, dass diese düsteren Worte, mit ihrem Versprechen an das zerbrechliche Leben, das sie geboren hatte, nun zu ihrem getreusten Quell der Hoffnung werden sollten.
    Die meiste Zeit lag sie da, horchte nach Geräuschen, die von ihrem Kind stammen könnten, und hörte doch nur das leise
Rascheln des Lehrmädchens, das sich um das Kind kümmerte. Aber es war eine geteilte Aufmerksamkeit. Ganz gleich, wie sehr sie es versuchte, sie konnte die verheerte Ebene von Windwir und den karmesinroten Himmel nicht aus dem dunklen Reich hinter ihren Augenlidern verbannen. Und als sie schließlich eindöste, folgte ihr der Geruch von Asche und Blut bis in den ruhelosen Schlaf.
    Lysias
    General Lysias von den Vereinigten Stadtstaaten wartete an der Tür darauf, dass Erlunds Adjutant ihn ankündigte. Die Jagdhütte erwachte langsam zum Leben. Schon früh am Morgen rannten betriebsame Bedienstete und Wachen überall herum und gingen ihren üblichen Aufgaben nach. Lysias bemerkte ihre ausgezehrten Gesichter und hohlen Blicke. Sie hatten zu viele Nächte mit zu wenig Schlaf verbracht, weil es zu viele Aufgaben für die wenigen verfügbaren Leute gab. Und jeden Tag verloren sie noch mehr, denn die Bediensteten flohen entweder weiter in den Süden des Deltas, um sich den Abtrünnigen anzuschließen, oder sie verließen das Delta ganz, um einen Neubeginn in einem der Dutzend Landstriche zu wagen, die willens waren, die zerlumpten Flüchtlinge aufzunehmen.
    Immerhin war Erlund in diesen Angelegenheiten bedachter als sein verstorbener Onkel, sinnierte Lysias.

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