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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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Dennoch war ihm klar, dass das nicht reichen würde. Der ehemalige Aufseher Sethbert hatte an den Familien der Soldaten, die während des Androfranzinischen Angriffskriegs von ihren Posten geflohen waren, ein Exempel statuieren wollen und Angehörige der Deserteure verstümmeln lassen. Erlund besaß wenigstens genug Verstand, sie ziehen zu lassen.

    Ich sollte mich ihnen anschließen , dachte Lysias, schob den Gedanken allerdings auf den Schlafmangel, der auch ihm zu schaffen machte. Eine Vernachlässigung seiner Pflicht kam nicht in Frage. Er würde seine Uniform behalten und an der Seite des Aufsehers bleiben bis zum letzten Ende, ganz gleich, wie bitter es kommen mochte. Auch wenn er wusste, dass er sich damit früher oder später der Axt jener sogenannten Revolutionäre gegenübersehen könnte. Er hatte mitgeholfen, den jetzigen Aufseher ins Amt zu bringen, und sich zu diesem Zweck am Sturz seines Vorgängers beteiligt.
    Diesen Fehler werde ich nicht wiederholen.
    Leise verfluchte er Sethberts Geisteskrankheit, obwohl er wusste, dass man ihm genauso viele Vorwürfe machen konnte wie den anderen Generälen, die auf die Fantasien des Wahnsinnigen gehört und dem Krieg anfangs zugestimmt hatten. Am Ende hatte er dem alten Hauptmann der Androfranziner dabei geholfen, die Dinge wieder zurechtzurücken, und zugesehen, wie Grymlis dem vorgeblichen Papst Resolut dabei behilflich war, durch Selbstmord zurückzutreten. Außerdem hatte er persönlich die Gruppe von Wachen geführt, die Sethbert auf der Grundlage von Resoluts Abschiedsbrief wegen Völkermordes festgenommen hatte; ebenjenes Briefes, den er zuvor, während einer Geheimverhandlung, über die Sethbert mit Hilfe des Hauses Li Tam entthront und Erlund gekrönt worden war, zusammen mit der uralten Handkanone von Vlad Li Tam erhalten hatte.
    Er hatte diesen Weg eingeschlagen, weil es seiner Ansicht nach der beste gewesen war, der dem Delta offenstand, und er war diesen Weg gegangen, weil er gehofft hatte, es wäre noch nicht zu spät.
    Er hatte sich geirrt.
    Nun verschlang der Bürgerkrieg das Entrolusische Delta – drei seiner Stadtstaaten hatten sich gegen die übrigen sechs gestellt, die treu zu den althergebrachten Abläufen und den Aufsehern
standen, einer Linie, die aus der tausendjährigen Eintracht hervorgegangen war. Schon bald würde ein weiterer Stadtstaat den Idealisten und ihrer Rhetorik auf den Leim gehen.
    Und vor zwei Nächten waren sie zu weit gegangen.
    Sie hatten abtrünnige Sümpfler angeheuert, um den Aufseher zu ermorden.
    Die verzierten Doppeltüren vor Erlunds privater Amtsstube öffneten sich, und sein Adjutant kam heraus. Wie alle anderen, die Lysias begegnet waren, sah der junge Mann abgehärmt aus. »Der Aufseher wird Euch nun empfangen, General Lysias«, sagte er und hielt ihm die Tür auf.
    Lysias nickte knapp und trat ein. Seine Stiefel wisperten über den dicken Teppich, der das Ende des breiten Gangs von Erlunds privatem Amtszimmer absetzte. Das Innere der Stube war aufwendig möbliert. Täfelungen aus Mahagoni und Ölporträts von Erlunds Vorgängern und ihren Familien verliehen dem Zimmer eine offene, warme Atmosphäre, die allerdings eine List darstellte, um die Arglosen einzulullen, und keine wirkliche Geste der Gastfreundschaft. Ein breiter Eichenschreibtisch aus dem uralten Holzbestand der Neun Wälder nahm die Mitte ein, und dahinter schlossen schwere Vorhänge das Licht eines Fensters aus, das ansonsten eine Sicht auf den Wald geboten hätte, der den Aufsehern als Jagdgebiet diente. Am Schreibtisch saß der Aufseher selbst beim Frühstück inmitten von Papierstapeln. Der junge Mann blickte auf.
    Er altert schnell. Aber das überraschte den General nicht. Erlund stammte aus einer anderen Generation als sein Onkel, und er hatte einen von der Gier und Paranoia seines Vorgängers verwüsteten Staat geerbt. Wenn Sethbert die geplante Angliederung der Neun Wälder gelungen wäre und er mit Hilfe des arrangierten Papsttums seines Vetters den Besitz der Androfranziner übernommen hätte, hätte es vielleicht anders ausgesehen. Aber nun starb das Delta einen langsamen Tod, und der Rest der Welt
folgte ihm in den Nachwehen der Verheerung von Windwir. Und auf den Schultern dieses jungen Mannes lastete das gesamte Gewicht dieser Entwicklungen.
    Weil diese neue Generation an allem Anteil nimmt , dachte Lysias.
    Erlund blickte auf, und die dunklen Ringe unter seinen Augen stachen aus seinem blassen Gesicht hervor. »Guten Morgen, General.

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