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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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noch einmal mit dem Griff der Axt der Herabkunft auf den Steinboden, um den Rat zu beenden. Während die alten Männer langsam aufstanden und hinausschritten, kam ihr Anführer zu ihr.
    »Ihr werdet eine weise Königin sein«, erklärte er mit leiser Stimme, »aber ich fürchte um Eure Zeit auf dem Thron.«
    Winters holte tief Luft und erhob sich. »Ich auch, Vater.«
    »Ich muss Euch etwas zeigen, auch wenn ich bei den Göttern wünschte, es wäre nicht so«, sagte er. »In dem Zelt, in dem mein Enkel liegt.«
    Er wandte sich um und sah den anderen nach, wie sie aus der Halle gingen, die gehauenen Stufen hinauf und in den schmalen Gang, der sie in die kalte Nacht hinausführte. Als ihre Schritte schon fern waren, ging er in dieselbe Richtung, und Winters folgte ihm.
    Wortlos stiegen sie nach oben und in eine bewölkte Nacht hinaus, die nach Rauch und drohendem Schnee roch. Das Zelt war in der Nähe errichtet und wurde von zwei großen Männern mit Speeren bewacht, die zu beiden Seiten einer flackernden Lampe standen. Der Älteste nickte ihnen zu, hob die Lampe vom Boden und schlüpfte hinein. Winters folgte ihm.
    Die sechs lagen auf Schneehaufen gebahrt, ihre Gesichter hager und bleich, von Qualen verzerrt. Alle bis auf einen waren angekleidet – er lag in Ölzeug gewickelt, von Rudolfos Anatom darin eingenäht. Erst jetzt waren die Nähte aufgetrennt worden. »Mein Enkel«, sagte der Älteste mit einem leisen, traurigen Flüstern.
    Winters spürte Scham in sich aufsteigen. Er hat mich hergeholt, weil sie ihm die Haut aufgeschnitten haben. »Es musste getan werden«, sagte sie, »aber es tut mir leid. Sie wollten wissen, wie er
an so oberflächlichen Wunden sterben konnte.« Winters erinnerte sich undeutlich an das Treffen mit Rudolfos Flussfrau und dem Anatom in den dunklen Roben, der die Klinge geführt hatte. Die anderen, die sie gefunden hatten, waren ebenso tot gewesen – manche ohne einen einzigen Kratzer. Körper und Herzen hatten ihnen einfach den Dienst versagt, so dass sie mitten im Lauf tot umgefallen waren. Als sie Winters um Erlaubnis gebeten hatten, auch die anderen aufzuschneiden, hatte sie abgelehnt und gesagt, dass der Befund von einem für alle ausreichen sollte. Daran erinnerte sie sich, aber der Rest jener frühen Tage nach Hanrics Tod lag im Nebel.
    »Nein«, beharrte er. »Nicht das.« Der alte Mann bückte sich und schlug mit seiner fleckigen Hand den Stoff zurück, unter dem der nackte Körper eines jungen Mannes mit strähnigem Haar lag. Winters blickte auf die Stelle, auf die der alte Mann zeigte, und fragte sich plötzlich, wie es ihr zuvor hatte entgehen können.
    Dort auf der Brust, etwas kleiner als ihre geschlossene Faust, waren mehrere Schnitte, ein Muster, das sie nicht erkannte. Winters beugte sich hinab, um es genauer zu betrachten, und der Geruch des Todes stieg ihr in die Nase. »Man hat ihm Schnitte zugefügt«, sagte sie. Die Narbe war hellrot und frisch verheilt, die Umrisse schienen genau so beabsichtigt zu sein, auch wenn Winters die Form nicht erkannte. »Wisst Ihr, was das ist?«, fragte sie.
    Er blickte ihr in die Augen, und in dem düsteren Licht sah sie die Tränen, die seine Wangen hinabliefen, die den Schlamm und die Asche abwuschen und seinen grauen, zerzausten Bart durchnässten. »Ja«, sagte er. »Es ist ein Greuel.«
    Er deckte die Leiche wieder zu und ging zur nächsten weiter, bückte sich und schlug die zerlumpte Fellweste und das dreckige Wollhemd zur Seite. Über dem Herzen des Mannes war dasselbe Zeichen in die Haut geschnitten.

    Schweigend sah Winters zu, wie er es bei den anderen genauso machte, jedes Mal darauf bedacht, die Kleider danach wieder an Ort und Stelle zu rücken. Als er fertig war, stellte er sich vor sie und sprach leise. »Unser vergessenes Erbe hat uns eingeholt«, sagte er, »obwohl Wenige es erkennen werden, wenn sie es sehen, denn diese Zeiten liegen unter zweitausend Jahren des Vergessens begraben.« Ihre Blicke begegneten sich, und bei dem, was sie in seinen Augen sah, zog sich Winters’ Magen zusammen. »Wenige sollten es erkennen«, fuhr er fort. »Besser, wir verbrennen sie, ehe jemand es sieht und als das begreift, was es ist.«
    Er will seines Kindes Kind verbrennen, um es zu vertuschen. Dass er so weit gehen und die Sitten mit Füßen treten würde, war eine Bestätigung für das, was sie in seinem Blick las.
    Dort sah sie Grauen, von Trauer durchsetzt, und plötzlich konnte sie ihren eigenen Kummer nicht mehr zurückhalten.

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