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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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Ein einzelnes Schluchzen schüttelte sie mit festem Griff und ließ sie wieder los. Winters kämpfte gegen ihre Tränen an und zwang sich, den alten Mann vor ihr anzublicken. »Was sind das für Zeichen?«, fragte sie, aber ein Teil ihrer selbst, tief in ihr, wusste es bereits. Als Einzige aus ihrem Volk war sie mit der Vergangenheit vertraut, die zu vergessen sie sich entschieden hatten. Denn auch wenn ihr eigenes Volk es nicht mehr wissen wollte, die Androfranziner mit ihren Ausgrabungen in der Alten Welt hatten nichts vergessen. Und ihr Tutor, der geflohene Gelehrte Tertius, der nun seit fünf Jahren tot war, hatte ihr auch das beigebracht, was sie niemals hatte wissen wollen. Er hatte zwar keine Bücher gehabt, um es ihr zu zeigen, aber die Worte dafür hatte er gefunden.
    Als der alte Mann nicht antwortete, fragte Winters noch einmal. » Verratet mir«, sagte sie, »was es bedeutet.«
    »Dies«, sagte er mit einer Stimme voller Verzweiflung, »sind die Narben des Hauses Y’Zir, die Besitzzeichen eines Dieners.«

    Draußen weit in der Ferne heulte ein Wolf den aufgehenden Mond an.
    Jin Li Tam
    Nachmittäglicher Sonnenschein fiel schräg durch die hohen Fenster von Rudolfos Arbeitszimmer und durchflutete den Raum mit Licht, das Jin Li Tam den Nacken wärmte, während sie am Schreibtisch saß. Sie blickte von den Papieren auf, die sie in den letzten Stunden durchgegangen war, und rieb sich die Augen im Kampf gegen die Übelkeit und den Kopfschmerz, die sie nun täglich heimsuchten.
    Sie verstand, weshalb die Flussfrau darauf bestanden hatte, dass sie sich die Aufgabe mit einer Amme teilte, und wusste, dass es Lynnae nicht besser erging. Hätte sie versucht, die Bürde ganz allein zu tragen, hätten sie das Stechen zwischen den Augen und der tobende Sturm in ihrem Magen zweifellos außer Gefecht gesetzt. Trotzdem beschwerte sich keine der beiden bei der anderen. Für Jin Li Tam war es eine Frage des Stolzes. Sie verabscheute den Gedanken, dass eine andere ihr Kind stillte, dass die Pulver, die Rudolfos Lenden zum Leben erweckt hatten, nun den kleinen Jungen, den sie zusammen gezeugt hatten, mit Tod und Schwäche bedrohten.
    Dies sind die Folgen meines Handelns.
    Drei Türen weiter schlief die junge Frau mit Jakob in dem Quartier, das man für sie bereitgestellt hatte. Erst hatte Jin Li Tam gegen alle Vernunft darauf bestanden, dass die Amme Jakob in Jin Li Tams Gemächern oder der Kinderstube gleich daneben stillte, aber es wurde schnell klar, dass Jakobs Bedürfnisse sich nicht nach ihren Wünschen richteten. Er hatte oft Hunger und wachte tagsüber und nachts mit schwachem, gurgelndem Weinen
aus seiner Lethargie auf. Letzten Endes hatte Jin nachgeben müssen, und Jakob verbrachte seine Zeit nun abwechselnd in Lynnaes Räumen oder bei ihr. Zum hundertsten Mal musste sie den Drang unterdrücken, aufzustehen und nach ihnen zu sehen, sich zu vergewissern, dass er noch atmete, zu erfahren, wann er zuletzt getrunken hatte, zu überprüfen, ob sich nicht die graue Blässe seiner Haut auf wundersame Weise in das zarte Rosa eines gesunden Kindes verwandelt hatte.
    Aber niemals – wie ihr mit Erschrecken klar wurde –, um Lynnae zu fragen, wie sie sich gegen die Wirkung des Tranks der Flussfrau behauptete. Sie wollte sich gerade aus ihrem Stuhl erheben, um sich genau danach zu erkundigen, dann lachte sie leise über sich und setzte sich wieder hin. Sie musste Lynnae ihre Arbeit tun lassen.
    Und ich habe meine eigene Arbeit , dachte Jin Li Tam.
    Sie zwang sich dazu, sich wieder mit den Papieren zu befassen, und las noch einmal Rudolfos letzte Nachricht, die verschlüsselt mit einem Vogel aus Caldusbucht eingetroffen war.
    Verborgen in einer imaginären Liste von Vorräten für die Bibliothek, die an den Piers von Caldusbucht zum Transport bereitstanden, fand sich erst eine Mitteilung und dann noch eine weitere, kunstvoll verschlüsselt mit jedem Schwung und Klecks der Feder. P von den Grauen geschützt; angegriffen, überlebt und geflohen , hieß es in der ersten Nachricht; und so verstörend sie auch war, die zweite Mitteilung ließ sie hoffen: Geht es dir und dem Jungen gut?
    Er interessiert sich wieder für mich.
    Die Art, wie ihre Familie Rudolfos Leben beeinflusst und jene, die ihm am wichtigsten gewesen waren – seine Familie, seinen besten Freund –, umgebracht hatte, hatte seine Liebe zu ihr im Keim erstickt.
    Dass Rudolfo sich plötzlich mit der zweiundvierzigsten Tochter jenes Mannes verlobt gesehen hatte,

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