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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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der Leid und Verlust in
den Fluss seines Lebens gekippt hatte, um dessen Lauf zu ändern, war der letzte Verrat gewesen. Dennoch war der Wille ihres Vaters kunstvoll in Rudolfos Charakter eingewoben – Vlad Li Tam hatte Rudolfo geformt, für die Welt und für seine Tochter. Und als sie ihm von dem Kind erzählt hatte, das sie in sich trug, hatte sie in seinen Augen gesehen, wie geschickt ihr Vater Rudolfos größte Stärke gegen ihn eingesetzt hatte.
    Einst hatte Jin einen Zigeunerspäher gebeten, ihr von seinem König zu erzählen, und nun, nach so vielen Monaten, hallten seine Worte in ihr nach: Er weiß immer, welchen Pfad er einschlagen muss. Und er schlägt ihn immer ein. Und als er einen Erben in Aussicht gehabt hatte, hatte Rudolfo bewiesen, dass er tatsächlich das Werk ihres Vaters war.
    Es klopfte an der Tür. Jin Li Tam blickte auf. »Herein.«
    Die Tür öffnete sich, und der Hausverwalter Kember kam herein. »Der Zweite Hauptmann Philemus hat einen Vogel vom Späher im Fünften Grenzabschnitt erhalten. Der Gesandte aus Turam befindet sich im Gräsernen Meer. Sie werden ihn herbringen – sie sollten morgen gegen Abend hier eintreffen.«
    »Gut«, sagte sie. »Gibt es weitere Nachrichten von Pylos oder seinem östlichen Nachbarn?« Zuletzt hatte sie gehört, dass der junge Erbe von Meirovs Thron öffentlich aufgebahrt worden war, während Erlunds Tod den tobenden Bürgerkrieg im Delta weiter befeuerte.
    Der ältere Mann räusperte sich. »Übermorgen begraben sie den Jungen. Wir sind nicht dazu eingeladen.«
    Natürlich nicht. »Sie verdächtigen uns«, sagte sie. »Unsere Bundschaft mit ihnen wird durch diese Ereignisse auf eine harte Probe gestellt.«
    Kember nickte. »Ja. Und unser Mann im Delta hat gehört, dass Erlund gar nicht tot ist, sondern ein Doppelgänger umgebracht wurde. Er glaubt, dass der Aufseher sich versteckt, aber er weiß nicht genau, wo. Seltsame Dinge gehen dort vor. Sie haben nördlich
von Caldusbucht auf der Whymerischen Straße beinahe einen ganzen Trupp Späher verloren.«
    »Das ist merkwürdig«, sagte Jin. »Was gibt es Neues von Aedric?«
    »Sie verfolgen den Metallmann in die Ödlande. Isaak glaubt, dass er gelogen hat, als er behauptete, nichts über Sanctorum Lux zu wissen.«
    Jins Blick verengte sich. »Metallmänner lügen nicht«, erwiderte sie tonlos.
    Aber sie können es. Sie erinnerte sich an Isaak, wie er im Regen stand, sein Metallkörper schutzlos den Launen des Wetters ausgesetzt, weil Papst Resolut die Seele nicht hatte erkennen können, die in dem mechanischen Geschöpf des Ordens – in Mechoservitor Nummer Drei – entstanden war. Er hatte dem Metallmann befohlen, seinen Androfranziner-Talar abzulegen, weil es sich seiner Meinung nach nicht schickte, wenn eine Maschine sich kleidete, als wäre sie ein Mensch. Und als Resolut den Metallmann nach dem Bannspruch gefragt hatte, mit dem Windwir zerstört worden war, Isaak gelogen und behauptet hatte, der Spruch sei ohne jede Möglichkeit der Wiederherstellung beschädigt worden.
    Nun ritt Isaak auf einer Verfolgungsjagd mit Neb und Aedric und einem Trupp Zigeunerspäher in die Ödlande.
    Schließlich stellte Jin die Frage, die sie eigentlich als Erstes hatte stellen wollen: »Gibt es weitere Nachrichten von Rudolfo?«
    »Nein«, erwiderte Kember. »Sie warten in Caldusbucht.«
    Jin blickte auf die Papiere hinab und fühlte sich plötzlich elend, weil sie überhaupt gefragt hatte. Sie hatten erst gestern Nachricht von ihm erhalten. Aber etwas hatte sich ungut angefühlt, als Rudolfo sich entschlossen hatte, ihren Vater zu suchen. Nichts Gutes kann daraus erwachsen , das wusste Jin. Obwohl er keine andere Wahl hatte, wenn ihr Sohn überleben sollte.
    »Nun gut«, sagte sie. »Haltet mich über den Gesandten auf dem Laufenden.«

    Er neigte den Kopf. »Ja, meine Dame.« Dann schlüpfte er durch die Tür und zog sie hinter sich zu.
    Jin Li Tam stand auf, streckte sich und hörte ihre Gelenke knacken. Ihre Muskeln schmerzten von den Übungen, die sie am Morgen absolviert hatte – sie hatte zum ersten Mal seit Monaten mit ihren Klingen getanzt, und sie spürte die Folgen im ganzen Körper. Sie wandte sich um und blickte aus den hohen Fenstern. Darunter lag – mittlerweile unter einer weißen Decke – der whymerische Irrgarten. Rudolfo hatte einmal erwähnt, dass er einen größeren hatte anlegen wollen, auf dem Hügel, auf dem nun die Bibliothek entstand. Aber auch der Irrgarten unterhalb des Fensters war nicht

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