Lockende Flammen
das Zimmer, in dem er damals gelegen und ins Leere gestarrt hatte, nachdem ihn sein Vater wegen seiner Tränen um seine Mutter ausgelacht hatte.
„Nur ein Dummkopf und Weichling weint um eine tote Frau, aber genau das bist du ja. Ein wertloser Zweitgeborener, der immer nur zweite Wahl sein wird. Vergiss das nie, auch wenn du erwachsen bist, Alessandro. Du wirst nie etwas anderes als zweitklassig sein.“
Zweitklassig. Zweite Wahl. Diese Worte hatten Alessandro sein ganzes Leben lang verfolgt. Und angespornt gleichermaßen.
Aber auch seinen erstgeborenen Sohn Falcon hatte ihr Vater nicht geliebt. Seine Liebe galt allein seinem einzigen Sohn aus zweiter Ehe. Kurz nach dem Tod seiner ersten Frau hatte er beschlossen, seine langjährige Mätresse zu heiraten, deren Existenz ihre Mutter über Jahre hinweg gedemütigt hatte. Dieser Ehe entstammte Antonio.
Antonio war sich der Macht, die er über seinen Vater besaß, nur allzu bewusst gewesen und hatte sich auch nicht gescheut, diese schamlos zu seinem Vorteil auszunutzen. Das war allerdings nur einer von vielen Gründen gewesen, warum seine Halbbrüder ihn nicht gemocht hatten. Obwohl Alessandro wahrscheinlich am meisten Grund gehabt hatte, Antonio ablehnend gegenüberzustehen.
Auch wenn das alles lange her war, hatte diese deprimierende Kindheit doch tiefe Narben auf Alessandros Seele hinterlassen, die zuweilen heute noch schmerzten und sich auch dadurch bemerkbar machten, dass er immer noch meinte, sich für seine Existenz rechtfertigen und seinen eigenen Wert beweisen zu müssen.
Deshalb hatte Alessandro seinem Zuhause schließlich den Rücken gekehrt und war eigene Wege gegangen. Statt Teil der alten feudalen Welt seines Vaters und deren Familiengeschichte zu werden, hatte er sich für die neue Zeit entschieden, in der ein Mensch nicht nach seiner Herkunft, sondern nach seinen Leistungen beurteilt wurde. Er hatte seinen Familiennamen abgelegt und den Geburtsnamen seiner Mutter angenommen, ein Name, der heute stolz auf den Flugzeugen seiner Fluggesellschaft prangte. Obwohl er inzwischen längst selbstsicher genug war, um beide Namen zu benutzen.
Er hatte der Welt zweifelsfrei bewiesen, dass er weder auf die Hilfe noch auf den Namen seines Vaters angewiesen war, um Erfolg zu haben. Was er geschafft hatte, hatte er ganz allein aus eigener Kraft geschafft. Mit dem Namen Leopardi hatte Alessandro heute keine Schwierigkeiten mehr, weil er nicht gezwungen war, sich mit ihm zu identifizieren. Jetzt war er ein Gleicher unter Gleichen, kein potenzieller Erbe und erst recht kein bedauernswerter Zweitgeborener.
Und doch konnte Alessandro seine Familienzugehörigkeit nicht ablegen wie ein getragenes Hemd. Er blieb immer ein Leopardi, was in Falcons Augen bedeutete, dass er seiner Familie gegenüber gewisse Pflichten hatte. Dieser Sichtweise seines älteren Bruders schloss sich Alessandro nur widerwillig an, was wahrscheinlich auch damit zu tun hatte, dass die Beziehung zwischen den beiden Brüdern unter der schwierigen Familiensituation in gewisser Weise auch gelitten hatte. Es gab Ungeklärtes und Unausgesprochenes zwischen ihnen, und dann war da immer auch noch die Sache mit Sofia.
Inzwischen war jedoch mehr als ein Jahrzehnt vergangen, seit Alessandro seinen älteren Bruder auf jede nur denkbare Art und Weise herausgefordert hatte. Früher war er keinem Kampf ausgewichen, was am Ende dazu geführt hatte, dass sie um dieselbe Frau konkurrierten, einen Sieg, den Falcon am Ende für sich verbuchen konnte.
Alessandros Falten auf der Stirn vertieften sich. Das war alles Vergangenheit. Er war längst nicht mehr sechsundzwanzig und musste niemandem mehr etwas beweisen, auch Falcon nicht. Und sich selbst erst recht nicht.
Und dennoch. War es nicht so, dass er auf die Einladung – oder besser gesagt Vorladung – unter anderem deshalb so unwillig reagierte, weil da „mit Begleitung“ stand? Was sollte das?
Einerseits verbot es ihm sein Stolz, ohne Partnerin an dem großen Maskenball teilzunehmen, nicht nur, aber auch, weil sein Vater das wieder einmal als ein Zeichen von Schwäche interpretieren würde. Andererseits hätte er mit Sicherheit keine Lust, die Frau, die aktuell in seinem Leben oder in seinem Bett eine Rolle spielte, mitzunehmen, selbst wenn es sie gäbe. Nicht nach den demütigenden Erfahrungen, die er damals mit Sofia gemacht hatte. Obwohl Alessandro natürlich wusste, dass das eine völlig irrationale Reaktion war.
So wie er auch wusste, dass er gut daran
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