Lockende Flammen
gezwungen war, an Stelle eigener Erfahrungen Fantasien zu setzen, lag sicher auch mit daran, wie sie aufgewachsen war. Sie meinte es noch heute zu hören, wenn ihre Brüder in der Pubertät über Mädchen gelästert und Punkte für Verfügbarkeit, Aussehen und sexuelle Erfahrung verteilt hatten. Leonora war über so viel Unsensibilität entsetzt gewesen und hatte sich geschworen zu verhindern, dass je ein Junge so über sie herziehen konnte. Das war natürlich nicht ohne Folgen geblieben. Denn irgendwann hatte sie angefangen, sich gegen ihre aufblühende Sinnlichkeit zu wehren und diese mit einer kumpelhaften Art zu kaschieren. Während andere Mädchen in der Pubertät gelernt hatten, mit ihrer Sinnlichkeit und Sexualität zu spielen, hatte Leonora angefangen, beides zu fürchten.
Aber das war alles Geschichte. Ihre Brüder waren mit siebenundzwanzig und vierundzwanzig längst erwachsen und seit langem darüber hinaus, mit irgendwem oder untereinander ihre Freundinnen und ihr Sexleben durchzuhecheln.
Und Leonora selbst war ebenfalls erwachsen. Ihr einziges Problem bestand darin, dass sie mit fünfundzwanzig immer noch Jungfrau war. Zum Glück wusste das niemand, vor allem nicht ihre Brüder. Obwohl sie nicht allzu oft über ihre mangelnde sexuelle Erfahrung nachdachte, und wenn, dann höchstens auf diese selbstironische Art, die sie sich angewöhnt hatte. Es gibt wahrlich Wichtigeres, dachte sie jetzt, während sie sich unter die Dusche stellte und das Wasser aufdrehte. Zum Beispiel, wie sie endlich zu ihrem Traumjob kam.
Als Kinder waren sie alle drei groß und mager gewesen. Während Piers und Leo irgendwann beeindruckend breite Schultern bekommen hatten, war Leonora jetzt zwar nicht mehr mager, aber doch immer noch auffallend schlank und zierlich. Obwohl ihr letzter Urlaub auf den kanarischen Inseln schon einige Monate zurücklag, schimmerte ihre Haut immer noch in einem warmen Goldton. Ihre Brüste waren klein, wenn auch nicht klein genug, um auf einen BH verzichten können, und die dunklen Knospen reckten sich keck himmelwärts.
Nachdem sie eilig geduscht hatte, verließ sie das Bad und durchquerte, sich dabei abtrocknend, auf langen schlanken Beinen ihr Schlafzimmer. Ihr Gesicht war umrahmt von einer wilden dunklen Mähne, die ihr nass über die Schultern fiel.
Als ihr Blick an der Pilotenuniform auf ihrem Bett hängen blieb, bekam sie Herzklopfen. Leonora war sicher gewesen, dass der Verdacht auf sie fallen würde, als Leo an Weihnachten den Verlust seiner Ersatzuniform beklagt hatte, aber zum Glück war niemand auf die Idee gekommen, dass sie etwas mit ihrem Verschwinden zu tun haben könnte.
Die arme Mavis von der kleinen Änderungsschneiderei ein paar Straßen weiter hatte sich anfangs kategorisch geweigert, die Uniform zu ändern. Das sei absolut unmöglich, hatte sie im Brustton der Überzeugung behauptet. Die Uniform sei viel zu groß, da würde Leonora nie hineinpassen, nicht einmal annähernd … und außerdem diese Mütze! Wie solle man die wohl ändern? Aber Leonora hatte darauf bestanden und Mavis versichert, dass sie ihr vollstes Vertrauen hatte, und am Ende war dieses Vertrauen belohnt worden.
Leonora wusste, dass viele Leute sie um ihre berufliche Selbstständigkeit beneideten. Dagegen ließ sich nichts sagen, schließlich machte ihr die Arbeit Spaß. Der einzige Haken an der Sache war, dass sie nie vorgehabt hatte, irgendwelchen aufstrebenden Geschäftsleuten und den Kindern ehrgeiziger Eltern Sprachunterricht zu erteilen, als sie ihre Sprachkenntnisse in Französisch und Italienisch noch durch Russisch und Mandarinchinesisch ergänzt hatte.
Aber das Leben war eben nicht immer fair, und ein Mädchen, das zwischen zwei Brüdern aufwachsen musste, schien es bisweilen besonders unfair zu behandeln. Denn schließlich war es doch so, dass sie zuerst den Wunsch geäußert hatte, Pilotin zu werden. Aber dann war ihr jüngerer Bruder plötzlich auf dieselbe Idee gekommen, und am Ende hatte er ihr auch noch ihren Traumjob vor der Nase weggeschnappt. Was bedeutete, dass er jetzt als Pilot einer privaten italienischen Fluggesellschaft durch die Welt fliegen durfte, während sie trotz ihrer überdurchschnittlichen Qualifikation immer noch als Sprachlehrerin arbeitete. Doch daran war sie ja selbst schuld, weil sie sich einen Beruf ausgesucht hatte, in dem es eine Frau immer schwerer haben würde als ein Mann – zumindest sah das ihr älterer Bruder so.
Natürlich gab es heutzutage Pilotinnen, eine
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