Lockende Kuesse
beschäftigen, denn so weit ich dies beurteilen kann, sind Sie in Rechtschreibung ebenso miserabel wie im Rechnen.«
Kitty schlug ein Wörterbuch auf und stellte sich mit dem Rücken zu Barbara und dem Lehrer vor ein Bücherregal. Rasch buchstabierte sie ihr das erste Wort vor und flüsterte: »Schreiben Sie einfach, was ich Ihnen sage, er kann mich nicht hören, wissen Sie, er ist nämlich stocktaub. Deshalb lässt er Sie ja alles aufschreiben.«
Als sie mit den ersten Wörtern fertig waren, reichte ihm Barbara ihre Schiefertafel zur Korrektur.
Kitty blieb weiter mit dem Rücken zu Barbara und Mr. Parker stehen. »Sie dürfen keine Angst vor ihm haben, Barbara. Wahrscheinlich droht er Ihnen mit Ihrem Vater, stimmt's?«
»Jetzt nehmen Sie eine neue Schiefertafel zur Hand und machen Sie aus den folgenden Wörtern richtige Sätze«, schnarrte Mr. Parker, sichtlich zornig darüber, dass sie keine Fehler gemacht hatte, für die er sie maßregeln konnte.
»Arbeitgeber«, diktierte Mr. Parker.
Kitty sagte: »Schreiben Sie: Weiß Ihr Arbeitgeber, dass Sie taub sind?«
»Arbeitnehmer«, fuhr er fort.
»Schreiben Sie: Arbeitnehmer sollen kleine Mädchen nicht schikanieren.« Kitty trat in aller Seelenruhe hinter Mr. Parker, nahm sich seine Taschenuhr und stellte sie ebenfalls eine Stunde vor, sodass sie nun mit der alten Standuhr übereinstimmte.
»Arbeitsstelle«, schnarrte Mr. Parker.
»Sie werden bald Ihre Arbeitsstelle verlieren«, flüsterte Kitty.
Die große Standuhr schlug zwölf, und Barbara erhob sich, um ihm die Schiefertafel zu geben.
»Wohin wollen Sie, Miss?«
Sie wies auf die Standuhr, und er starrte fassungslos aufs Zifferblatt. Dann nahm er seine Taschenuhr vom Schreibtisch, warf einen Blick darauf und schaute danach sichtlich verwirrt auf.
Barbara knickste höflich, reichte ihm die Schiefertafel und machte sich davon, so schnell ihre Beine sie trugen. Kitty blieb jedoch noch ein wenig, um das Gesicht des Lehrers zu sehen, wenn er die Schiefertafel las.
Er starrte auf die Sätze, und seine Gesichtsfarbe verwandelte sich von einem schmutzigen Weiß zu einem schmutzigen Grau. Wütend stammelte er: »Dieses Miststück!«
Kitty hielt sich den Staubwedel wie ein Hörrohr ans Ohr und rief: »Hä?« Dann beeilte sie sich, die Bibliothek zu verlassen.
Nach dem Abendessen ging Jonathan in seinen Club, und Patrick beschloss, ins Theater zu gehen. Er befahl Bradshaw nur äußerst selten, die Kutsche vorm Haus vorfahren zu lassen, weil er gewöhnlich viel lieber selbst zum Stall und zum Kutschenhaus hinüberging; er liebte die Atmosphäre dort. Beim Rennen hatte er ein wenig Geld gewonnen und war daher in ausgezeichneter Stimmung. Es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass es seltsam aussah, wie er in gestärktem Oberhemd und mit Zylinder die Nüstern eines Kutschpferds streichelte. Patricks Blick fiel auf Terry, der ihm irgendwie bekannt vorkam. »Wer ist das?«, erkundigte er sich bei Bradshaw.
»Das ist der neue Stallbursche, von dem ich Ihnen heute Nachmittag erzählt habe. Der Herr möchte, dass ich ihm Kutschieren beibringe, aber so wie ich das sehe, ist er noch zu jung dafür.« Es war offensichtlich, dass Bradshaw keine Konkurrenz haben wollte, und Patrick musste sich ein Grinsen verkneifen. »Er kann heute Abend mitkommen«, sagte er und zwinkerte Terry freundlich zu, der entzückt zur Stelle war. Patrick wusste, dass er Bradshaw damit verärgerte, aber er konnte sich noch gut erinnern, wie es war, dies und jenes nicht tun zu dürfen, weil einen die Erwachsenen für zu jung hielten. Patrick saß in seiner Privatloge im Theater und sah sich die Tänzerinnen sorgfältig an. Gerade, als er seine Wahl getroffen hatte und eine kleine Notiz hinter die Bühne schicken wollte, kam der Buchhalter vom Gibraltar in die Loge gestürzt.
»Mr. O'Reilly, Gott sei Dank, dass ich Sie gefunden habe. Es gibt Ärger in der Weberei. Bin bei Ihnen vorbeigefahren, aber Ihr Vater war nicht zu Hause, und man sagte mir, wo Sie wahrscheinlich zu finden wären.«
Alarmiert fragte Patrick: »Was für Ärger?«
»Nun ja, Ihr Vater hat heute die Löhne gekürzt, und jetzt hat sich ein Mob vor der Weberei versammelt, und ich kann sie nicht mehr halten.«
»Los, gehen wir«, sagte Patrick und nahm Zylinder und Handschuhe. Er schaute kurz im Man & Scythe Pub vorbei und fing Bradshaws Blick auf. Terry folgte ihnen zum Kutschenparkplatz des Pubs, wo sie ihre Kutsche fanden. »Zur Gibraltar-Weberei, Beeilung.«
Rasch lagen
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