Lockende Kuesse
speisen. Danach spielten sie Domino.
»Wie wär's mit einer halben Krone Einsatz?«, fragte Jonathan lachend. »Aber was willst du einsetzen?«
»Och, ich muss nichts einsetzen, ich werde gewinnen!« Sie hielt ihr Wort und steckte vergnügt die halbe Krone ein.
»Du meine Güte, du bist ganz schön scharf, Kleines. Hast wohl mal wieder die Messer gewetzt, wie? Der Mann, der dich übers Ohr hauen will, muss erst noch geboren werden. Du steigst einem zu Kopf wie ein guter Schnaps, Mädel.« Er strahlte sie an.
»Sie haben sich wirklich ganz erstaunlich gut erholt. Ich kann's noch immer nicht fassen. Es kommt mir fast so vor, als hätte Ihnen nie was gefehlt«, staunte Kitty.
»War wahrscheinlich auch gar kein Schlaganfall«, schnaubte Jonathan verächtlich. »Die Ärzte wollen einem doch bloß weismachen, dass man kränker ist als in Wirklichkeit, damit sie mit einer möglichst fetten Rechnung kommen können. Bin schließlich nicht von gestern. Mich kann man nicht so leicht über den Löffel halbieren.« Er zwinkerte Kitty zu. »Genauso wenig wie dich, hm, Kitty?«
»Oh, aber Sie waren wirklich krank, Mr. O'Reilly. Ihre Aura ist ganz braun geworden.«
»Meine Aura? Was ist das, Mädel?«
»Nun ja, wissen Sie, das ist das Licht, das einen Menschen umgibt. Aus der Farbe dieses Lichtscheins kann man viele Dinge herauslesen, zum Beispiel über Ihre Gesundheit und Ihren Charakter.«
»Das ist doch bloß Zigeuner-Hokuspokus. Das glaubst du doch nicht wirklich.«
Lachend antwortete Kitty: »Sagen Sie bloß nicht, dass Sie nicht auch abergläubisch wären - immer werfen Sie Salz über Ihre Schulter, wenn Sie den Streuer umgestoßen haben, oder Sie klopfen irgendwo auf Holz.«
»Erwischt«, räumte er lächelnd ein. »Also, was hat es mit dieser Aura auf sich?«
»Na ja, als Sie krank waren, wurde sie irgendwie schlammig braun, und jetzt ist sie wieder blass orange, also geht's Ihnen schon viel besser. Wenn Sie vollkommen gesund sind und die Webereien leiten und jeden rumkommandieren, dann ist Ihre Aura leuchtend gelb. Das zeigt, dass Sie viel Energie haben. Und wenn Sie die Beherrschung verlieren, wird sie an den Rändern rötlich.«
»Ich? Die Beherrschung verlieren? Nie!«, protestierte er. »Und jetzt sag mir: hat jeder diese Aura?«
»Ja. Julia ist rot und Barbara schön hellblau.«
»Und deine?«
»Man hat mir gesagt, sie wäre hellviolett«, sagte sie und dachte im Stillen, Patricks ist ein tiefes, leuchtendes Purpur. Sie schlug vor: »Möchten Sie, dass ich Ihnen aus der Hand lese?«
Er hielt ihr die Hand hin, die Finger dabei ein wenig nach oben gekrümmt.
»Aha, ich sehe sofort, Sie sind vorsichtig mit Ihrem Geld. Ihre Hand sieht aus wie eine Schüssel, als wollten Sie das behalten, was Sie bereits haben. Wenn mir jemand die Hand mit gespreizten Fingern hinhält, weiß ich sofort, dass dieser Person das Geld durch die Finger rinnt. Erkennen Sie den Unterschied? Sie haben eine rechteckige Hand. Das bedeutet, Sie sind praktisch und haben eine Menge gesunden Menschenverstand. Ihre Handfläche ist länger als Ihre Finger, was bedeutet, dass Sie mehr ein Mann der Tat als ein Träumer sind. Sie machen aus allem, was Sie anpacken, einen Erfolg. Ihr Daumen ist sehr dick, vor allem am Ansatz. Das heißt, Sie sind gern der Chef. Ihr Venushügel ist sehr fleischig.«
»Wo ist der?«, erkundigte er sich wissbegierig.
»Hier, dieser Hügel, am Daumenansatz. Das bedeutet, Sie lieben die schönen Dinge des Lebens. Sie essen gern und viel und lassen es sich auch sonst gut gehen. Ihre Fingerspitzen sind ein bisschen breit, also neigen Sie ein wenig zur Sturheit und möchten um jeden Preis Ihren Willen durchsetzen.« Sie lachte.
»Genug von meinem Charakter. Wie steht's mit Geld und Zukunft?«, wollte er wissen.
»Sie haben Ihr Vermögen ja bereits gemacht, Mr. O'Reilly. Und was Ihre Zukunft betrifft, da kann ich Ihnen nur den üblichen Zigeuner-Hokuspokus erzählen. Sie werden einer finsteren, mysteriösen Fremden begegnen. Sie werden eine lange Reise antreten. Sie haben drei Wünsche frei«, scherzte sie.
Doch er hatte bloß einen Wunsch: Kitty. Sie ging ihm in letzter Zeit immer öfter im Kopf herum. Er wollte seinen Sehnsüchten nachgeben und es mit ihr treiben, fürchtete sich aber, auf den Geschmack zu kommen und dann wieder abserviert zu werden. Sie würde mit dem ersten jungen, reichen Schnösel abhauen, der ihr über den Weg lief. Was hatte er schon, um sie an sich zu binden? »Verflucht noch mal, ich
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