Lockende Versuchung
wünschte, ich müsste nie wieder fort.“
Sir Edmund presste die Zähne aufeinander, um nicht einzugestehen, dass auch er wünschte, sie möge für immer bleiben. Er wollte sie an sich drücken, sie küssen … keinen keuschen, väterlichen Kuss. Nein, den Kuss eines Liebenden, der die Frau in ihr erweckte.
„Ich möchte am liebsten hier liegen bleiben“, fuhr Julianna träumerisch fort, „bis die Nacht hereinbricht und ich dann später das Heraufdämmern eines neuen Tages beobachten könnte.“ Nach einer kurzen Weile fügte sie sehr entschieden hinzu: „Irgendwann werde ich es auch tun. Nicht heute natürlich, denn ich würde mir in den nassen Sachen den Tod holen. Aber bevor der Sommer vorüber ist, will ich einmal unter dem Sternenhimmel schlafen.“
„Nun, du bist ja in Abbot’s Leigh dein eigener Herr.“ Sir Edmund bemühte sich, gleichgültig zu erscheinen. „Ich rate dir nur, damit zu warten, bis die Nächte noch etwas wärmer sind, und erst aus dem Haus zu gehen, wenn alle schon schlafen. Sonst würde es ein Gerede darüber geben, mit wem du dich wohl im Dunkeln treffen willst.“
Julianna schniefte verächtlich. „Von wegen! Dann kommt doch mit. In diesem Falle würde niemand darüber reden.“
„Ich habe, weiß der Kuckuck, öfter im Freien geschlafen, als du dir vorstellen kannst, mein Kind, und ich kann dir versichern, dass das im allgemeinen äußerst unbequem ist.“
„Ach, bitte, bitte, Sir Edmund!“ Das sehnsüchtige Flehen in Juliannas Stimme hätte Steine erweichen können. „Bitte.“
„Also gut“, knurrte er. „Ich bin nun mal ein unverbesserlicher Narr.“
Sir Edmund hielt sein Versprechen. In einer warmen, mondlosen Nacht Anfang Juli schlich er sich mit Julianna wie ein Dieb aus dem Hause. Auf einer nahe gelegenen Wiese waren die Schnitter am Werke gewesen, und nun lag das Heu dort zum Trocknen ausgebreitet. Auf einen der flachen, süß duftenden Stapel breitete er Juliannas Decke aus und behielt die seine zum Zudecken zurück, obwohl die späte Stunde noch kaum eine Abkühlung gebracht hatte. Der Himmel hing über ihnenwie ein von Diamanten übersätes, mit schwarzem Samt ausgeschlagenes Gewölbe.
„Diese Sterne da oben haben mich schließlich nach Hause gebracht“, sagte er nachdenklich.
„Die Sterne?“, wiederholte Julianna ungläubig.
„Oh, ja. Du musst wissen, dass südlich des Äquators ganz andere Sternbilder am Himmel zu finden sind. Wann immer ich zum Firmament emporsah, sehnte sich mein Herz nach dem Großen Bären und nach der Venus, unserem Abendstern. Natürlich haben noch andere Ereignisse meinen Entschluss mit bestimmt wie zum Beispiel ein neuerlicher Fieberanfall und Zusammenstöße mit den Holländern. Aber den entscheidenden Ausschlag gab dann letztendlich mein Verlangen, den heimatlichen Himmel wiederzusehen. Ich hatte mir meinen Kindertraum, die weite Welt kennenzulernen, erfüllt und war dabei zu der Einsicht gelangt, dass es keinen schöneren Ort gibt als das eigene Heim.“
Ob Crispin sich wohl jetzt auch wünscht, den Großen Bären sehen zu können oder vielleicht den Polarstern, fragte sich Julianna. Doch sogleich ärgerte sie sich darüber, dass ihr ausgerechnet in diesem Augenblick Crispin in den Sinn kam, obwohl sie sich dieser treulosen Anwandlung hinwiederum sehr schämte.
In der Tat war der einzige Schatten, der bislang auf die glücklichen Wochen in Abbot’s Leigh gefallen war, die immer deutlicher werdende Erkenntnis, dass ihr Crispin zu entgleiten drohte. Die acht Monate seiner Abwesenheit dünkten sie wie acht Jahre. Mehr und mehr entschwand sein Bild im Nebel der Erinnerung, und das schlimmste daran war, dass sie nicht die Kraft aufbrachte, dagegen anzugehen. Nur in ihren Träumen erschien er ihr hin und wieder noch als Liebender. Doch auch hier blieb seine Gestalt meist im Dunkeln. Nur der warme, volle Klang seiner Stimme haftete ihr noch im Ohr.
„Nun habe ich dir so viel von meinem Heim und meinen Vorfahren erzählt. Doch eigentlich weiß ich so gut wie nichts über deine Familie“, fuhr Sir Edmund, nachdenklich geworden, fort. „Du hast von deinem Vater gesprochen, aber nie von deiner Mutter. Erinnerst du dich überhaupt noch an sie?“
Julianna schüttelte den Kopf. „Nein. Auch meine Mutter starb ja kurz nach meiner Geburt.“
Wortlos ergriff Sir Edmund ihre Hand und drückte sie sacht.
„Nach so langer Zeit bedarf es des Trostes nicht mehr“, sagte Julianna, ohne ihm jedoch die Hand zu entziehen. Aber ihr
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